21. November
Ein starker Wind lässt das Wasser des Canale Grande aufschäumen und bläst uns Schneeflocken um die Ohren, als wir am Bahnhof ins Vaporetto steigen und später dem Eingang des Hotels Savoia e Jolanda zueilen. Es ist das fünfte Haus neben dem Dogenpalast. Der Schlüssel 301 erschliesst uns ein grosses Zimmer, ganz in Blau und Gold, den venezianischen Farben, mit einem schönen Badezimmer und einem windgeschützten Balkon samt Tischchen und zwei Stühlen mit einer sagenhaften, atemberaubenden Aussicht auf die ganze Bucht, von den Giardini zum Lido, über die Kirchen San Giorgio, Le Zitelle, Redentore und Salute hinweg bis zur Zecca, der ehemaligen Münzprägerei, auf Gondeln und die Anlegestelle der Vaporetti San Zaccaria. Zur Begrüssung zaubert Michael Merci- und Bacci- Schokolade, eine Flasche Porto und eine Kerze auf den Tisch.
Er bringt es auch fertig, dass der Wind sich legt und das Wetter zu einem Spaziergang einlädt. Heute ist das Fest der Salute. Das Bild der schwarzen Madonna ist von der Markuskirche zur Salute gebracht worden. Die Gottesmutter und das Kind sind für diesen Anlass mit Filigrangoldketten geschmückt und die Riesensäulen der Kirche mit edlem, rotem venezianischem Damast belegt. Trotz der Kälte bewegt sich eine beachtliche Menschenmenge an der Fürbitterin vorbei, die ein Ende der Pest erwirkte, mit meterlangen Kerzen, die in der Kirche geweiht werden und dann zuhause Gesundheit für die ganze Familie bringen sollen. Damit wir gesund bleiben und uns nicht erkälten helfen wir mit diversen Kleiderschichten nach, die während des ganzen Aufenthaltes hier wichtig sein werden.
Ein Schlummertrunk mit Kerzenlicht und Luxusaussicht beschliesst den aufregenden Tag. Auf den nächsten müssen wir uns zwar noch vorbereiten. Acqua alta (Hochwasser) ist angesagt. Wir müssen doch unsere nebenan gekauften knallblauen Überziehplastikstiefel mit den orangen Schnürsenkeln zur Befestigung bei Knöchel und Knie noch auf ihre Tauglichkeit prüfen. Wie? In der Badewanne natürlich. Mit viel Gekicher.
22. November
Ein wunderschöner Sonnenschein kündet einen interessanten Tag an. Im Erdgeschoss des Hotels strebt man nicht auf Teppichen Richtung Morgenessen, sondern auf nassem, unfein duftendem Marmor. Kellner saugen mit einem Spezialapparat und missmutigem Gesicht das Wasser weg, das ungebeten durch die Ritzen des Bodens an die Oberfläche quillt: Hochwasser.
Völlig ungewohnt und amüsant ist es, mit unseren Hochwasserstiefeln den Markusplatz zu durchqueren, nicht wie alle unvorbereiteten Leute auf den Holzstegen, die in der ganzen Stadt in diesen kritischen Zeiten aufgestellt werden, sondern wirklich quer durch. Die gefangene Luft in den Überstiefeln bewirkt, dass man ein leichtes Schwebegefühl überwinden muss. Mein langer, hochgereffter Mantel, der gegen die Kälte ein Segen ist, erweist sich jetzt eher unpraktisch. Michael als alter, unerschrockener Seebär stapft genussvoll durch das bis rund 40 cm tiefe Wasser Richtung Café, setzt sich auf einen der vielen Stühle und lässt die Füsse im Wasser baumeln. Er scheint auf einen Kellner zu warten, der die bestellte heisse Schokolade nicht bringt (zum Glück, denn hier würde sie etwa Fr. 12.- kosten). Oder geniesst er ganz einfach die schönen schwankenden Spiegelbilder zu seinen Füssen, diese ungewöhnliche Situation und den Sonnenschein? Nach einer Weile setze ich mich zu ihm, denn die Läden rund um den Platz sind geschlossen. Und bald sind wir nicht mehr die Einzigen. Es ist total verrückt: Wir geniessens und bedauern zugleich die Venezianer, die damit fertig werden müssen. Die weltberühmten Tauben findens auch nicht lustig. Ängstlich hocken sie in den Ecken, einige hat das Wasser erwischt und sie versuchen sich mit verzweifelten Flügelschlägen schwimmend zu retten. Alle werden nicht von tierliebenden Touristen aufgehoben. Einige werden von Möwen erwischt.
Der Markusplatz, "der schönste Salon Europas", soll Napoleon ausgerufen haben, wird durch die Markuskirche noch mehr veredelt. Vor allem in der Dunkelheit, wenn die Tauben schlafen und die Tagestouristen wieder weg sind, wirkt er fast wie eine Vision aus einem Märchen. Auch das Innere ist ein Traum: die mit Gold bedeckten Wände und Mosaikbilder, die unvergleichlich phantasievollen Marmormosaiken auf den Böden, und die goldene Altarplatte.
Ohne komische Einlage, will sagen ohne Überstiefel, suchen wir einen Ort, wo wir unseren Hunger stillen können. Uns gelüstet es nicht nach venezianischen Spezialitäten wie z.B. seppie nere (Tintenfisch). Wir kehren im Barba nera ein, werden überrascht, dass man hier eine Riesenschüssel frischen Salat geniessen kann und bummeln am Nachmittag durch die uns vertraute Stadt. Im Gewimmel der engen Gässlein entdecken wir einen Selbstbedienungsladen, wo wir unser Nachtessen einkaufen können (werden wir je wieder einmal diesen praktischen Laden ohne Stadtplan finden können?).
Unser Nachtessen wird gemütlich durch den Kerzenschimmer, die Beleuchtung in der Lagune und den Vollmond, der ja an der Höhe des Wasserstandes mitbeteiligt ist. Vaporetti, Fischerboote, private Motorboote, ein Luxusliner mit Lotsenschiff, das Schiff, das alle halbe Stunden mit "Huup! Huup! Huup!" zum Lido davonrauscht, das wie ein Pfeil heranspritzende Polizeiboot oder die Ambulanzia, beide mit Blaulicht, was gibt es da nicht zu beobachten! Und die Menschenmengen da unten, haufenweise Japaner wie im Sommer und viele andere! Ich stelle mir vor wie sich das Bild früher wohl zeigte. Meine Phantasie malt Galeeren, Kriegsschiffe, luxuriöse Gondeln mit Edelleuten in die Lagune und man kann mich nicht vom Fenster weglocken.
23. November
Was ist jetzt passiert? Wo sind wir? Den Balkon sieht man noch. Weit weg und ganz verschwommen glänzen drei orangefarbene Lämplein. Und sonst nur dicker Nebel, einfach gespenstisch. Also ich kann mich wahrlich nicht beklagen, für Abwechslung wird gesorgt. Dafür ist der Boden im Erdgeschoss ganz glänzend geputzt und trocken. Wir sind heute früher auf den Beinen und das Hochwasser hat sich verspätet.
Auf dem Markt im Stadtteil Cannaregio sieht mans deutlich: Hinterlistig gluckst ein harmloses Wässerlein durch die Bodenplatten, Luftbläschen steigen auf, es gibt kleine Wasserlachen und daraus entwickelt sich später das Hochwasser. Auch die elegant gekleideten Venezianerinnen müssen ihre Gummistiefel anziehen, um einkaufen zu gehen, denn es hat doch nicht überall praktische, erhöhte Laufstege.
Wir befinden uns im Stadtteil der Fischer und der Kaufleute. Hier hat früher einmal der kleine Marco Polo von der weiten Welt geträumt. Wir entdecken kleine Gärten hinter Mauern, einen Pausenplatz mit lärmenden Kindern, eingezäunt von hohen Mauern wie ein Gefängnisauslauf.
Hier finden wir auch das Ghetto mit seinen Hochhäusern, in denen früher eine unglaubliche Menge von Leuten auf engstem Platz leben musste. Im Museum venezianisch-jüdischer Kunst betrachten wir Seidendecken mit Arabesken, Blumen und Landschaften darstellenden Flachstickereien. An den Wänden hängen hinter Glas alte Eheversprechen in blumiger Sprache, schön beschriftet und verziert. Der Ehemann erklärt, er werde fortan für das Wohlergehen seiner Frau sorgen, er werde sie ernähren und kleiden und sie ehren. Thoragefässe, Gebetsmühlen, Kerzenleuchter in getriebenem Silber und mit Filigranarbeiten verziert stehen in Vitrinen.
Die Innenausstattung des im Führer beschriebenen Palazzo Albrizzi ist schwer zu besichtigen, wenn man mit nassen Schuhsohlen kommt. Wir wollen auch nicht warten, bis ein Konzert darin stattfindet (es ist jetzt Wagnerwoche mit Vorträgen und Musizieren angesagt). Dank Michaels Charme dürfen wir dann doch die venezianischen Kronleuchter und kostbaren Stuckdekorationen und Deckengemälde bewundern.
Im Stadtführer wird auch eine Trattoria beschrieben. Um zur "Zucca" (Kürbis) und zu den Gemüsegerichten mit orientalischem Einschlag zu gelangen benötigt man einen Stadtplan und einen Kanalhüpfer mit ausgezeichnetem Orientierungssinn wie Michael. Wir finden das Gesuchte im Stadtteil San Polo, Ponte del Megio und werden mit einem feinen Essen und Kastanienmousse (nicht Marronimousse!) belohnt.
Später treiben uns ein mit vielen Eindrücken voller Kopf und kalte Füsse zu unserem Hotel zurück. Wie ein Doge residiert Michael gut eingemummelt auf unserer Terrasse, das Volk und die wunderbare Aussicht zu seinen Füssen. Ab und zu verscheucht er eine Taube, über die Spatzen freut er sich.
Während langsam der Nebel die Bucht erobert und die untergehende Sonne das Wasser orange färbt, um dann zwischen den Türmen der Salute unterzugehen, schreibe ich Notizen für das Tagebuch.
Nun sind wir wieder bereit, etwas zu erleben. Im vornehmen Stadtteil San Marco suchen wir einen Musikladen. Das geht nicht so rasch, denn mich lenken die Schaufenster der bekannten Modehäuser ab. Die Preise sind so extravagant wie das Ausgestellte. Da entdecke ich wunderbare Damaststoffe, dort Samt und Seide vom Allerteuersten und Allerfeinsten, pelzgefütterte Regenmäntel (ideal für dieses Nebel-Herbst-Wetter), Muranoglas, Kelche und Schalen aus feinstem Fadenglas, venezianische Glasperlencolliers, Papeterien mit erlesenen Papieren und natürlich Masken für jeden Geschmack. Hier findet man einen Laden mit Masken, die Tierköpfe darstellen. Ein einziges Geschäft erinnert daran, dass bald die Adventszeit beginnt.
Im Hotel zurückgekehrt, pressen wir unsere Nasen wieder an die Fensterscheiben. Ausser gespenstischen Scheinwerfern gibt's nichts zu sehen, denn der Nebel hat wieder alles verschluckt. Man hört die Warnsignale der Schiffe, das Plätschern der Gondeln, die wegen dem Kielwasser eines unwirklich wirkenden vorbeischwebenden Luxusdampfers auf und ab schaukeln. Ich male mir aus, wie aus dem milchigen Nebel heraus das riesige Schiff des fliegenden Holländers mit blutroten Segeln auftaucht und höre im Geist das Matrosenlied. Alles scheint wie ein Traum, alles versinkt in purem Genuss.
24. November
Aussicht, Luft und Wasser zeigen sich heute Morgen kristallklar, alle Stege und Dächer voll Raureif. Michael, der den Fahrplan aller Vaporettis im Kopf gespeichert zu haben scheint, wie es sich für einen guten Reiseleiter ziemt, schaut aus dem Fenster und ruft: "Vaporetto in Sicht!" Und schon sind wir unterwegs zum Stadtteil San Polo (St. Paulusquartier).
Zum dritten Mal suchen wir im Gewimmel der Strässchen, die zum Teil nicht breiter sind als zwei eng nebeneinander stehende Menschen das Museum Carlo Goldonis. Auch dieses Jahr ist es wegen Renovationen geschlossen, ich glaubs ja nicht! Dabei lese ich so gerne seine Komödien und hätte mehr über ihn erfahren möchten. Vielleicht nächstes Jahr.
Den zweiten alten Bekannten, den wir heute aufsuchen ist Tizian (1477-1576), der 99jährig an der Pest in Venedig gestorben ist. Unsere zweite Lieblingskirche, die Chiesa dei Frari, beherbergt viele Bilder dieses berühmten Malers, sowie auch seine sterblichen Überreste. Der Mittelteil seines eindrücklichen Mausoleums zeigt als Marmorrelief das Bild "Mariä Himmelfahrt", das der Maler als Altarbild gemalt hat.
Einmal mehr staunend stehen wir vor dem Mönchschor aus dem 15. Jh. mit reich geschnitzten Bänken und verziert mit Bildern aus Holzintarsien.
Gegenüber dem Grabmal von Tizian beeindruckt immer wieder das des Bildhauers Antonio Canova (1757-1822) in seiner eine Pyramide vortäuschenden Dreieckform. Was für eine Verbundenheit und Trauer die Figuren ausdrücken wie auch der grosse venezianische Löwe, der davor Wache hält, kann ich nicht beschreiben. Das Innere birgt das Herz des Schöpfers. Canovas strenges klassizistisches Kunstideal wurde seinerzeit viel bewundert und nachgeahmt. Er galt als Erbe alter italienischer Steinmetztradition, Patriot und hochgebildeter Weltmann.
Der Komponist Claudio Monteverdi (1567-1643) hat hier seine eigene Kapelle. Er soll mit seinen Reformleistungen eine der genialsten Persönlichkeiten in der Musikgeschichte gewesen sein. Als erster stellte er die Forderung auf, das Wort müsse "Gebieterin der Musik" sein.
Wie war doch noch der Name des Würdenträgers, der hoch oben auf seinem Grabmal liegt, seitlich hingestreckt auf dem Ellbogen aufgestützt? Er hält mit der rechten Hand die Falten seines Gewandes und scheint belustigt auf die Menschlein runterzublicken, die mit ihren Sorgen und Freuden im Herzen die Kirche besuchen.
Dagegen liegt der Doge Foscari mausetot auf seinem Sterbelager, erhaben und unnahbar, weit weg von allem Lebenden.
Häufig kann man in den Kirchen folgendes beobachten: Frauen oder Männer kommen rein, behalten in der einen Hand die Einkaufstaschen, berühren mit der anderen Hände oder Füsse von Statuen der Heiligen, um nach Kreuzzeichen und Kniebeugung heim zu gehen.
Unsere eisigen Hände und Füsse wollen aufgewärmt werden, darum verzichten wir für heute auf den alten Bekannten Jacopo Tintoretto. Die 56 Gemälde, mit denen er die Scuola Grande di San Rocco ausstaffiert hat, werden wir ein andermal aufsuchen.
Im Stadtteil Dorsoduro gelangen wir ins Quartier der Universität. Was ist denn hier los? Mit Badehosen und Badekappen bekleidet spielen junge Leute ein Ballspiel, wie wenn sie an einem warmen Strand wären, obwohl sie sichtlich frieren. Dann spazieren sie unter den Händen eines Spaliers ihrer Bekannten durch und bekommen von jedem einen Tritt in den Hintern. Nun wird mit verdeckten Augen eine Zigarette geraucht, dann mit lauter Stimme ein Text vorgelesen, worin lauter Dummheiten stehen. Jede Aktion wird johlend und lachend von der dabeistehenden Menge verfolgt und die Begleiter grölen immer einen Refrain: "Dottore! Dottore!... Umtata! Umtata!" An den Wänden der Häuser, an Mauern und an den Bäumen kleben Plakate mit Fotos der frischgebackenen Dottori aus allen möglichen Fakultäten, sie sind noch ergänzt worden mit mehr als unanständigen Zeichnungen und Lebensläufen. Einen recht eigenartigen Humor haben die Leute hier!
Und nun zu etwas Seriöserem: Am Rio San Trovaso kann man zusehen, wie Gondeln repariert und hergestellt werden. In der Werkstatt riecht es nach Holz und Teer. Fr. 66'000.- kostet eine stolze Gondel ungefähr. 7 Holzarten und 280 Einzelteile ergeben das in Venedig so beliebte Fortbewegungsmittel von 10.15m Länge.
Nach der Siesta auf unserem Balkon wollen wir in fast sommerlicher Wärme Altbekanntes wieder treffen, indem wir uns vom Vaporetto am Canale Grande an weit über hundert grossen und kleinen, renovierten und verlotterten, bewohnten und zerfallenden Palazzis vorbeischaukeln lassen. Aufgepasst: Hinter rissigen, schmutzigen Fassaden verbergen sich auch luxuriöse Hotels mit Marmor, Samt, Muranoglasleuchtern und stolzen Preisen. Hier bekommt der Satz "Der Schein trügt" genau den umgekehrten Sinn. Die Rialtobrücke, das Wagnerhaus, das Casino, das Ca d'Oro, die ehemaligen Handelshäuser, wunderschöne Architektur gleiten an einem vorbei wie im Film.
Aus einem der Gebäude werden zwei Missetäter in Handschellen ins Polizeiboot gebracht. Im Traghetto (Gondelfähre) balanciert ein Venezianer stehend ein Riesenpaket auf seinem Kopf.
Wir fahren weiter zur Friedhofsinsel San Michele. Hier finden wir das Grabmal des in Venedig gestorbenen Sergej Diaghilew (1872-1929). Er gilt als "Vater des Balletts". Als Mäzen und aussergewöhnlicher Organisator führte er die St. Petersburger Oper und das Ballett nach Paris. Dort konnte er die bedeutendsten Komponisten, Textdichter und Tänzerinnen zu einem gemeinsamen Werk zusammenbringen. Statt Blumen legen ihm die Tänzerinnen ausgetragene Spitzenschuhe zum Gedenken aufs Grab.
In der Nähe haben der Komponist Igor Strawinsky (1882-1971) und seine Frau unter ganz bescheidenen Grabplatten ihre ewige Ruhe gefunden. Die Ballettwelt hat auch ihm viel Schönes zu verdanken.
Wie im Sommer huschen Eidechsen über die warmen Marmorplatten.
Ein zauberhaft gefärbter Sonnenuntergang in leuchtendem Rot beschliesst einen ereignisvollen Tag.
25. November
Der Stadtteil Castello, den wir heute aufsuchen, zeigt sich anders als das Herz Venedigs. Die Strassen sind etwas breiter und luftiger. Die Tagestouristen gelangen nicht bis hierher. Hier braucht es keine Hochwasser-Laufstege, denn manches steht auf festem Boden. Viele Lebensmittel- und Handwerksläden, Gemüsestände, Früchteverkäufer sorgen für ein farbenfrohes Bild.
Hier ist Antonio Vivaldi geboren (um 1678-1741). In der Chiesa Santi Giovanni in Bragora finden wir neben einem Durcheinander von diversen Kunst- und Bauepochen Vivaldis Taufbescheinigung beim Taufstein. Sie besagt, dass er zuerst zuhause als krankes Kind notgetauft worden war, bevor man ihn in die Kirche bringen konnte. "Il preto rosso" wie er genannt wurde, war Komponist, Kapellmeister und Direktor eines Konservatoriums in Venedig.
In der Scuola di San Giorgio degli Schiavoni lohnt es sich, die beiden Säle genau zu betrachten. Der obere mit seiner gemütlichen Atmosphäre zeigt sich ganz in Braun- und Goldtönen, mit Holzschnitzereien an Decke und Wänden.
In beiden Sälen hängen Bilder mit Szenen aus dem Leben der drei heiligen Schutzpatrone dieser Brüderschaft, St. Georg, Hieronimus und St. Stephan, vom venezianischen Maler Vittore Carpaccio (1455 - 1526) mit viel Liebe für Details geschaffen. Sehr realistisch malt er z.B. herumliegende Leichenteile, die der Drache noch nicht gefressen hat, Stoffe, Blumen, Landschaften.
Im Zusammenhang mit St. Georg hat uns beschäftigt, wie er die Lanze halten sollte, um dem Untier erfolgreich zu Leibe zu gehen. Alle möglichen Varianten findet man in Venedig verstreut, Georg als Rechts- oder Linkshänder, als Kraftprotz oder eleganter Lanzenhalter je nach Aussage des Bildes oder nach Auffassung der Künstler.
Hieronimus, der die Bibel aus dem hebräischen und griechischen Urtext ins Lateinische übertrug, hat als Einsiedler einem Löwen einen Dorn aus der Pranke gezogen. Darum stellt ihn Carpaccio hier inmitten von vielen Tieren dar.
Der dritte im Bunde ist St. Stephan, der Heilige, ursprünglich König von Ungarn, Schwager des Kaisers Heinrich II., organisierte die Verwaltung und Rechtspflege nach deutschem Vorbild, ebenso die Kirchenorganisation und machte aus Ungarn einen abendländisch-christlichen Staat.
Weitere Löwen finden wir als überlebensgrosse, steinerne, stirnrunzelnde Wächter beim Eingang zum Arsenale, der riesigen Staatswerft, wo früher alle Kriegsschiffe der imposanten venezianischen Seemacht gebaut wurden.
Am Nachmittag erobern wir per Schiff die entferntere Umgebung der Lagune. Wir lassen uns am Lido vorbei bis Punta Sabbioni schaukeln. Wir geniessen die Sicht auf ausgedehnte Sandbänke, die die Ebbe freigelegt hat. Möwen und Menschen suchen hier nach Muscheln, die im Sand liegengeblieben sind.
Ein zauberhaftes Licht in diversen zarten und kräftigen Blautönen erhellt das Meer, den sieben Kilometer langen Wellenbrecher als Fortsatz der Lido-Insel, worauf Velofahrer als schwarze Pünktchen sich vom Himmel abheben und den am Ende stehenden Leuchtturm.
Die Karte zeigt, dass die Fahrrinnen zwischen Venedig und dem Lido nur etwa 2,2 bis 21 m tief sind.
Dann, nach etwa anderthalb Stunden, geht die Sonne als riesiger Feuerball hinter einer Dunstschicht unter. Der Bug des Schiffes zerteilt flüssiges Gold und blaue Wellen.
Ein Gute-Nacht-Spaziergang zieht uns zu den kleinen, dunklen Gässchen und Kanälen, zu den leise schwankenden, bunten Spiegelbildern im Wasser. Eine Gruppe Japaner geniesst ihre Gondelfahrt mit Serenata, Gesang und Akkordeon. Die jungen Frauen winken diskret zu uns aufs Brückchen herauf mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht.
Zauberhaftes, verträumtes, romantisches Venedig! Zum Süchtigbleiben!
26. November
Zum sechsten Mal wird die Bett- und Badezimmerwäsche erneuert. Riesensäcke voll frischer Wäsche benötigt das Hotel täglich. Was für eine Verschwendung
Wer meint, wir hätten genug Kunst betrachtet, der irrt sich gewaltig! Es lockt die Kirche S. Maria del Carmelo aus dem Jahr 1348 mit den dunkelbraunen, teils vergoldeten Holzskulpturen rund ums Mittelschiff. Später bestaunen wir die spätbarocken Malereien von Giovanni Battista Tiepolo (1696-1770) in der Scuola dei Carmini. Man kann die Farben süss nennen, aber welch ein Schwung in den Flügeln der Engel und Gewänder. Lebensgenuss, religiöse Visionen, Illusion von unendlichen Weiten, durchsichtige Himmelsbläue, alles kann man hier in Musse betrachten ohne den Kopf nach oben zu verrenken, denn man findet alles wieder im Spiegel, den man in den Händen hält.
Beschwingt sucht man darauf die warmen Sonnenstrahlen beim breiten, tiefen Giudecca-Kanal. Nun möchte man so elegant fliegen können wie die Möwen. Oder will man Seitengässchen erforschen, die man noch nicht kennt, bis die Schuhsohlen durchgelaufen sind? Man könnte doch auch mit dem Vaporetto fahren, auf dem vordersten Platz, mit der besten Aussicht und dem warmen Wollschal um den Kopf bis Venedig untergegangen ist?
Wir entscheiden uns, ins Hotelzimmer und in die Realität zurückzukehren, wenn das hier überhaupt möglich ist. Augen und Köpfe haben im Moment genug
Nach der Ruhe folgt: Eine Gondelfahrt! Noch ein Geschenk von Michael!
So abgedroschen das Thema ist, die Gondel bleibt das entspannendste, vornehmste und romantischste Fortbewegungsmittel, besonders wenn der Gondoliere merkt, dass man liebend gerne in engen, verschwiegenen einsamen Kanälchen fährt. Als Kontrast bietet er uns ein kleines Stück Weg im Canale Grande, nahe bei der Rialtobrücke mit viel Wellen und Betrieb, um gleich wieder in die Einsamkeit einzubiegen. Man hört nur noch die kleinen Wellen glucksen, ein flüchtiges Plätschern des Ruders, ein melodiöses "Oo-ee!" des Gondolieres, wenn er um eine Häuserecke fahren will, hin und wieder Schritte über die Brückchen. Die Sonne geht unter und wir wünschen uns wieder einen Stillstand der Zeit.
27. November
Tintoretto (1518 Venedig - 1594) ist ein Übername und bedeutet der kleine Färber, der grosse war der Vater, von Beruf nämlich Färber. Dieser schickte seinen gerne und gut zeichnenden Sohn zu Tizian in die Lehre. Als der Meister das grosse Talent des Lehrlings erkannte, soll er ihn aus der Werkstatt hinauskomplimentiert haben.
In meinem Kunstlexikon steht: "Tintoretto hat in leidenschaftlichem Bemühen einen eigenen Stil entwickelt, nachdem er Michelangelos Zeichnungskunst und Tizians Farben studiert hatte. Er fasst alles in einem Wirbel von Bewegtheit zusammen; mit kühnen Verkürzungen stösst er aus der Tiefe vor oder löst den Vorgang in ein Spiel von Licht und Schatten auf. Dies ist besonders bei den Gemälden in der Scuola di San Rocco der Fall, dem Gebäude einer Vereinigung, die sich der Pflege der Armen und Kranken widmete und deren Mitglied Tintoretto war".
Von 1564-87 schuf er die herrlichen Bilder mit Themen aus dem alten und neuen Testament und dem heiligen Rochus (1295-1327), der mit grosser Liebe Pesterkrankte pflegte, selber krank und wie durch ein Wunder geheilt wurde und ein Mitschutzheiliger der Stadt ist.
Diesem, einem unserer Lieblingsmaler, haben wir viel Zeit gewidmet, denn wir konnten uns nicht sattsehen. Morgens und Nachmittags schwelgten wir im Bilder- und Farbenrausch. Der Hauptraum der Scuola gilt als Tintorettos Sixtinische Kapelle.
Eindrücklich und studierenswert sind auch Francesco Piantas holzgeschnitzte allegorischen Figuren längs den Wänden dieses Saales (17. Jhd.). Da entdeckt man den eingemummelten Spion, den temperamentvollen Zornigen, den Wissenschaftler, den Verherrlicher der Bildhauerkunst und den der Malerei, den Geldraffer und die Bibliothek. Von weitem meint man ein echtes Büchergestell zu sehen, mit alten, in Leder gebundenen, am Rücken etwas beschädigten Büchern und zusammengerollten Schriften. Bei genauerem Betrachten entpuppt sich das Ganze als Skulptur! In der Mitte des Büchergestells lässt sich ein reich verziertes Türchen öffnen. Dahinter stehen ein Tintenfass und eine Schreibfeder (auch aus Holz, man glaubt es kaum).
Auf der Heimfahrt zum Hotel seufzen wir. Was für Schätze hätte man noch finden, was für Entdeckungen machen können in dieser wunderbaren, alle Sinne anregenden Stadt. Und wir müssen morgen weg! Ein letzter Blick bleibt uns noch auf die mit Kronleuchtern beleuchteten Fenster, verträumte Winkel und Gärtchen. Möwen schaukeln auf Wellen, die wie geschmolzenes Gold zerfliessen.
28. November
Alle Sonntagsglocken und ein wunderschöner Sonnenschein erleichtern uns die Wegfahrt in keinster Weise!
Wann kommen wir wieder?
Evelyne Scherer
Fotos: Michael Scherer
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