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Venedig, Tod und Leben (2001)

 

Nach einem rabenschwarzen Herbst, in dem es von Schlagzeilen wie: Katastrophe, Verwirrung, Vernichtung mancher Werte, Verzweiflung, Tod, Verwüstungen, Amoklauf, Flugzeugabsturz und heiliger Krieg nur so wimmelte, in dem man hingerissen wurde zwischen Trauer und Hoffnung, zwischen Machtlosigkeit und Aufbauwillen erlebten wir den Aufenthalt in Venedig, der mir zum Geburtstag spendiert wurde, auf eine ganz besondere Art. Ganz herzlichen, innigen Dank an Michael, dem edlen Spender!

Nirgendwo anders kann man Wirklichkeit und Traum, harte Tatsachen und Phantasie, Tod und Leben intensiver erleben und in Gegensätzen denken, wie hier. Stimmungen und Gefühle drängen sich auf in einer Intensität, die sonst nicht in dieser Art möglich ist. Wahrscheinlich ist das auf den permanenten Schwebezustand zurückzuführen, in welchem man sich den ganzen Tag befindet. Wo hat man hier schon festen Stand? Wo steht man auf einem Pfahlrost, wo auf Inselboden? Der Bootssteg, die Anlegestelle der Vaporetti, die Schiffsplanken, die hölzernen Brücklein, alles schwankt und wiegt einen sanft hin und her. Nach einer langen Vaporettofahrt ist man überzeugt, dass auch der Boden, oder gar ganz Venedig? leise vibriert und unter den Schritten nachgibt. Ist dies das Geheimnis des Zaubers dieser Stadt, die unzählige Künstler, Kunsthandwerker, Musiker und Maler hervorgebracht und angelockt hat? Wie viele Dichter haben Venedig gepriesen und bewohnt? Wie lange noch? Düstere Prophezeiungen über den Untergang der Stadt entsteigen den Dohlendeckeln und glucksen aus dem Schlamm der verlandenden Kanälchen.

 

Rio...

 

Alles fliesst in Venedig: Die Zeit und ihr Vergehen werden vom Wasser diktiert, ausser Feuerwehr, Polizei und Krankentransport kann sich niemand schnell darauf bewegen. Und man macht mit Transparenten "STOP MOTONDOSO" darauf aufmerksam, dass die Motorboote am Untergang der Stadt mitbeteiligt sind. Venedig ist ewig jung und ewig alt

Es fliessen die Grenzen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Man findet hier noch Winkel und Gassen die Canaletto, der in Venedig geboren ist und die meiste Zeit seines Lebens dort verbracht hat, gemalt haben könnte, Uferpartien mit präzisen Details, die in Museen der ganzen Welt in Öl zu bewundern sind. Die perspektivischen Stadtansichten, die sonnendurchfluteten Szenen, der Canale Grande, die Piazza San Marco kann man heute noch fotografieren, man kleidet in Gedanken die Leute wie im Jahr 1716 z.B., man denkt sich die Souvenir-Stände und Japaner weg, oder man spaziert Nachts hier vorbei, wenn alle Plätze menschenleer werden und die Stadt sich so zeigt wie früher. Halt, das elektrische Licht muss noch weg! Heute versuchen immer noch zahlreiche Maler an Ort und Stelle die Stimmung, das goldene Licht über der Lagune, die heimeligen Winkel, die Uferpartien mit den zahlreichen Türmen, Dächern, Türmchen, Zinnen auf Leinwand zu bannen. Fast froren ihnen die Farben auf den Paletten ein, denn es war sehr kalt.

 

Wirklichkeit und Abbild

 

Sitzt man gedankenverloren geniessend im Vaporetto der uns zu den Lagunen-Inseln schaukelt, so würde als Begleitmusik dazu natürlich Antonio Vivaldis oder Benedetto Marcellos Kompositionen passen, aber auch die von Tomaso Albinoni (1671 - 1750), der als Sohn eines wohlhabenden Papierhändlers in Venedig geboren wurde. Zu seiner Zeit wurde er als bedeutendster venezianischer Komponist sehr hoch geschätzt. Von seinen 55 Opern hört man kaum mehr etwas, aber das berühmte Adagio in g-Moll berührt einen heute wie früher. Dass Bach in zwei Fugen Motive aus Albinonis Triosonate bearbeitet hat, macht Vergangenheit zu Gegenwart, Tod zu Leben.

In Venedig entstand im 17. Jahrhundert die Idee der Opernhäuser, wie wir sie jetzt kennen, die den reichen Familien und auch der breiten Öffentlichkeit zugänglich waren. Claudio Monteverdi schuf Opern, deren Musik fast gänzlich verloren ging, wie beispielsweise sein venezianisches Spätwerk "Il ritorno d'Ulisse in Patria" (1640).

Nietzsche: "Venedig ist sichtbargemachte Musik".

Auf dem Weg zu den Inseln lesen die meisten Leute, so ist die Stimmung ruhig und beschaulich. Man schaukelt sanft an der Friedhofsinsel San Michele vorbei bis gurgelndes und zischendes Wasser, verstärkte Motorengeräusche und ein kräftiger Ruck den musikalischen Träumen ein kurzes Ende machen. Man steigt aus und befindet sich auf einer weltberühmten Insel:

Wer kennt Murano nicht?

 

Fadenglas

 

Glas wurde ab dem 10. Jahrhundert erzeugt. Im Mittelalter (15. Jahrhundert) waren schon die kleinen Taschen- und Gürtelspiegel, Tisch- und Handspiegel aus Kristallglas, die hier hergestellt wurden, sehr geschätzt. Im 16. Jahrhundert entwickelte man die Fadenglas-Technik, verwendet wurde ein sehr reines Sodaglas von grosser Streckbarkeit mit meist weissen Fadenmustern im Wechsel mit farblosen Glasstäben, die Technik " à la façon de Venise". Wegen seiner Ähnlichkeit mit Bergkristall nannte man das Glas "cristallo". Dieses Glas war auch besonders geeignet für den Diamantriss, bei dem ein Diamant in einem Halter wie ein Bleistift benützt wurde, um kunstvolle Motive ins Glas zu ritzen. Überall dort, wo Renaissancefürsten Wunschträume wahr werden liessen, wo Barockschlösser und ihre Inneneinrichtungen und Spiegelkabinette Besucher anziehen, taucht der Name dieser Insel auf, denn die Spiegelmanufakturen von Murano verfügten bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts als einzige über die Kenntnis, zylindrisch geblasenes Spiegelglas herzustellen auch kannten sie das Geheimnis, wie man grosse Glasflächen giessen kann. So findet man die Wasserspiegelungen Venedigs in den Salons wieder, als Glasspiegelungen, Schaffungen von Illusionen, Vorspiegelungen, das Widerspiegeln ins schier Unendliche.

Das Millefioriglas, ein Mosaikglas mit blumenähnlichen, rundlichen Mustern, bei dem verschiedenfarbige, zusammengeschmolzene Glasstäbe oder -stangen in Scheiben geschnitten, in klares Glas eingeschmolzen und dann in die gewünschte Form gebracht werden, war in der Antike bekannt und wird heute in Quantitäten den Touristen verkauft.

 

Burano

 

Fährt man weiter, so gelangt man zur Insel Burano, heute der Anziehungspunkt für viele Dichter, für Leute, die allem Betrieb entfliehen wollen, für Maler, die grelle Farben mögen. Grell? Genau, denn hier feiern die Augen eine Farbenorgie besonderer Art. Man stelle sich eine Häuserzeile vor, mit kleinen angemalten Häuschen in einem kunterbunten Nebeneinander von Violett, Knallgrün, Blutrot, Zartlila, Kanariengelb, Pink, Blassblau, Ocker und noch vielen anderen Farben und Schattierungen vor. Stehen wir mitten in einer Theaterkulisse oder ist das Wirklichkeit? Als wir dort ankamen war Sonntag, die Fischernetze lagen am Ufer bereit für den Fang vor dem nächsten Morgengrauen, fast sämtliche Wäscheleinen waren von einer Strassenseite zur andern behängt mit so bunter Wäsche wie die Fassaden. Überall duftete es nach frischer Seife und nach gegrilltem Fisch. (Das Lesen der Speisekarte im Restaurant war für mich ein Grauen: Fisch, Muscheln, Tintenfisch, Fischsuppe, Risotto mit Fischsud, Aal, oder "granseola", Meeresspinne mit Öl und Zitrone - im bizarren Panzer des Tieres angerichtet. Für andere würde das Baden in Genüssen besonderer Art bedeuten. Nirgends kann man wohl frischeren Fisch in mehr Varianten serviert bekommen.) Eine Augenweide sind die ausgestellten Spitzen. (Achtung: Nicht alle sind hier angefertigt worden!) Die schönsten Häkel- und Klöppelarbeiten sind am Hauptplatz in der Scuola di Merletti (Spitzenschule) zu bewundern.

 

Stickerei

 

Weitere Inseln wären

- Torcello, die Obst- und Gemüseinsel und

- der Lido, das Sandstrandparadies und Venedigs Sommerfrische, Ende August/Anfangs September internationale Filmfestspiele, die Biennale im eigens errichteten Filmpalast, Wettbewerb bei dem als Preise Goldene und Silberne Löwen verliehen werden, gehört neben Cannes und Berlin unbestritten zu den wichtigsten Filmfestivals der Welt.

Spätestens hier fällt einem der Film "Morte a Venezia" mit Dirk Bogarde ein, in dem Visconti eine Novelle von Thomas Mann sehr stimmungsvoll verfilmt. Es ist die Geschichte eines deutschen Künstlers der sich in Venedig in einen schönen polnischen Knaben verliebt und an der Cholera stirbt.

Pellestrina, die beschauliche Fischerinsel für ruhige Spaziergänge und Chioggia, Fischumschlagplatz der nördlichen Adria, wären auch einen Ausflug wert.

 

Fernweh

 

Dasselbe Wasser, bestimmt etwas sauberer als heute, lockte wohl den Venezianer Marco Polo (1254-1324) in die Weite, aber auch sein Vater und Onkel, die hiesige Kaufleute und Geschäftspartner waren, sehr bereiste Leute, die schon 1260 nach Usbekistan und nach China gefahren waren. Nach 9 Jahren (!) kehrten sie in ihre Heimat zurück, um zwei Jahre später mit Marco Polo eine zweite Chinareise zu unternehmen. Ihre Route begann in Akko (heute Israel), führte sie auf dem Landweg nach Hormus am Ausgang des Persischen Golfes und weiter nordwärts durch Persien zum Oxus (heute Amudarja) in Zentralasien. Sie folgten dann dem Oxus flussaufwärts bis zum Pamir, sie überquerten das Gebirge und kamen in die Region von Lob Nur in der chinesischen Provinz Sinkiang (heute autonomes Gebiet Xinjiang Uyur). Schliesslich durchquerten sie die Wüste Gobi und kamen 1275 am Hofe des mongolischen Herrschers Kubilai Khan im chinesischen Schangdu an. Kein Europäer zuvor hatte je den Grossteil der Landschaften auf dieser Route gesehen, vor allem nicht den Pamir und die Wüste Gobi. Marco Polo trat nun in den diplomatischen Dienst Kubilais ein, war dessen Begleiter auf Dienstreisen in viele Teile des Reiches und für drei Jahre Gouverneur der chinesischen Stadt Yangtschou. Sein Vater und Onkel dienten Kubilai als Militärberater.

Ihre Heimatstadt Venedig erreichten sie 1295 wieder. Drei Jahre später nahm Marco Polo als Kommandant einer venezianischen Galeere an einer Seeschlacht zwischen den Flotten Venedigs und Genuas teil und geriet in Gefangenschaft. Einem Mitgefangenen diktierte er da den detaillierten Bericht seiner Reisen. 1299 wurde er entlassen und kehrte nach Venedig zurück, nicht nur um seinen Landsleuten das Rezept für Wassereisspeisen aus China, wo Glace schon vermutlich um 2000 v. Chr. erfunden worden ist, zu bringen.

 

Venezia

 

Sein literarisches Werk "Die Reisen des Venezianers Marco Polo (Original in Altfranzösisch), zählt zu den berühmtesten Reisebüchern überhaupt. Lange Zeit blieb das Werk in Europa die einzige Quelle für das Leben im Fernen Osten, lieferte es doch Wissen über China, Thailand, Japan, Java, Teile von Vietnam, Sri Lanka, Tibet, Indien und Burma. Das Werk bildete die Grundlage für die ersten in Europa hergestellten Landkarten Asiens.

Der Bericht weckte auch das Interesse von Christoph Kolumbus, der allerdings stattdessen auf Amerika stiess (1492), als er den Fernen Osten Marco Polos auf dem entgegengesetzten Weg zu erreichen versuchte. Im Gebiet des heutigen Venezuela lebten mehrere Indianerstämme. Die ältesten Funde werden auf etwa 15000 v. Chr. datiert. An der Küste entdeckte Kolumbus bei seiner dritten Reise Fischerdörfer auf Pfahlbauten. Deswegen gab er dem Land den Namen Venezuela, was so viel wie Klein-Venedig bedeutet.

Polos Werk inspirierte schliesslich auch den portugiesischen Seefahrer Vasco da Gama, denn er schlug einen Seeweg von Europa um Afrika herum in den Fernen Osten vor, was er auch 1497 bis 1498 schaffte.

Es sei noch erwähnt, dass Venedig vom 13. bis zum 15. Jahrhundert das Monopol auf den Gewürzhandel mit dem Nahen Osten hatte, dafür jedoch ausserordentlich hohe Preise verlangte, so dass Portugal und Spanien nach anderen Wegen zu den Gewürzinseln suchen mussten.

 

Kreuzfahrt mit Halt in Venedig

 

Venedig als Ausgangspunkt für Reisen in die ganze Welt! Heute reist die ganze Welt nach Venedig! Touristenströme wälzen sich von einer Sehenswürdigkeit zur andern. Die meisten Besucher haben keine Zeit, sich darin zu vertiefen. Ankommen, in die Gondel rein, im 6er-Pack, eine Stunde Fahrt, Gondoliere grölt "O sole mio!", ein bisschen Canale Grande, einige kleine Wasserstrassen, knipsen, winken, Fassade des Dogenpalastes, Campanile, Kathedrale San Marco, Tauben füttern, Abfahrt zur nächsten italienischen Stadt, zu welcher auch immer. Es bringt der Stadt viel Geld ein, den Gondolieri und den Schifffahrtsgesellschaften ebenso. Auch das Geld fliesst in Venedig.

Vom Vaporetto aus fliesst die Kulisse aller Paläste und Luxuswohnungen an einem vorbei. Früher gehörten sie den Kaufleuten und Adeligen aus aller Welt, heute denen, die es sich leisten können, Paläste zu kaufen oder zu mieten, die eine Unsumme von Geld verschlingen, um alles in Stand zu behalten. Eine zerbröckelnde Fassade kann zwar fürs Auge als Kunstgenuss erkannt werden, kann auserlesenen Luxus tarnen, mit der Zeit wird's aber auch innen feucht. Und erst noch, wenn die Wand der teuren Wohnung langsam oder sicher eine bauchige Form annimmt...

 

Canale Grande von der Rialtobrücke aus

 

Viele Venezianer wohnen jedenfalls nicht mehr am Canale Grande, wenigstens die einfachen Leute nicht. Venedig ist verkaufbar geworden, zu hohen Preisen, die Einheimischen flüchten nach Mestre, die Ausländer nisten sich ein. Die jungen Venezianer ziehen das Festland vor. Es ist dort mehr los. Venedig ist für sie ein langweiliges Dorf geworden, in welchem jeder jeden kennt. Die ältere Generation geniesst immer noch die Wohn-Quartiere der Stadt, mit den kleinen verwinkelten Gässchen, den vielen Werkstätten, dem Kunstgewerbe, den Läden und Arbeitsstätten der Papier- und Maskenhersteller, den winzigen Läden mit dem kunterbunten Warenangebot. Hier findet man noch die Gondelwerft, mit ihrem dorfähnlichen Charakter und den Holzhäuschen. Die noch hier Ansässigen lieben ihr Quartier, den Zusammenhalt in den Familien, die Stimmen der einzelnen Menschen würden hier klarer tönen als in jeder anderen Stadt, sagen sie. Jeder weiss, was der Nachbar eingekauft und gekocht hat, jeder kann jedem helfen, jeder weiss, wo, wie und mit wem der andere seinen Abend verbringt, das fördert das Zusammengehörigkeitsgefühl. Eigenartigerweise kann hier auch ein Fremder inkognito leben, kann untertauchen und seine Ruhe haben.

Allerdings habe ich meine Zweifel, ob Terence Hill hier unerkannt Fisch oder Gemüse auf dem Markt einkaufen könnte. Wie ich gerade auf ihn komme? Weil er als Mario Girotti am 29. März 1939 in Venedig das Licht der Welt erblickt hat, bevor ihn das Licht der Kinos in der ganzen Welt bekannt gemacht hat, zusammen mit seinem Partner Bud Spencer.

 

Gondola

 

Vom Umschlagplatz Venedig aus verteilte man nicht nur Glas, Stoffe, Gewürze in alle Welt, hier wurde auch die erste Druckerpresse 1469 eingerichtet, in dieser Stadt gab es 1500 insgesamt 417 Drucker. Die erste der erfolgreichen Antiqua-Schriften (="alte Schrift" ) mit geraden Schäften, runden Verbindungsschriften und isolierten Lettern stammte aus der Hand von Nicolas Jenson, eines französischen Typenentwicklers und Druckers, der sich 1470 in Venedig niederliess. Venezianische Schrifttypen sind durch geringe Kontraste zwischen dicken und dünnen Teilen ihrer Buchstabenformen sowie den schrägen Querstrichen beim kleine e gekennzeichnet. So finden wir den Weg zurück in unsere heutige Computerwelt mit den vielen alten und modernen Schriftarten.

Aus Venedig stammte der Verleger mit dem grössten Einfluss auf die Literatur dieser Zeit: Aldus Manutius (1449-1515). Er sorgte dafür, dass die italienischen Schriftsetzer es lernten griechische Texte zu setzen. Seine Bücher, auch günstige Ausgaben im handlichen Oktavformat mit griechischer Dichtkunst und Philosophie, darunter 31 Erstausgaben, fanden von Venedig aus in ganz Europa Verbreitung. Berühmte Gelehrte stellte er als Redaktoren, Schriftsetzer und Korrektoren ein. Er gründete eine Akademie von Gelehrten, zu ihren Mitgliedern zählte auch der Humanist Erasmus von Rotterdam.

 

San Marco

 

1482 erschien in Venedig die erste gedruckte Ausgabe von Euklids Arbeiten, einer Übersetzung aus dem Arabischen in das Lateinische. Der griechische Mathematiker (um 365 bis ca. 300 v.Chr.) formulierte in seiner so genannten euklidischen Geometrie Grundlagen, die heute noch als Basis für die Vermittlung dieser Wissenschaft gilt.

1502 gründete der dem christlichen Glauben angehörende flämische Buchdrucker Daniel Bomberg eine Druckerei in Venedig, in der er vornehmlich hebräische Werke druckte, darunter die ersten vollständigen Texte des palästinischen und des babylonischen Talmud.

Schon früher waren die alten Werke der Philosophen Platon und Aristoteles gefragt, besass doch der Senat von Venedig eine riesige Sammlung von griechischen Handschriften, die den Grundstock der Bibliothek der Kathedrale von San Marco bildet.

 

Eine der vielen berühmten Tauben

 

Ob sich das die Tauben einander erzählen, die gurrend und zu Hunderten auf den Zinnen der Paläste sitzen, dort, wo nicht spitzige Dornen aus Metall sie abwehren? Nein, sie sind eher daran interessiert quietschenden Mädchen auf den Kopf zu fliegen, oder im Tiefflug über spazierende Leute hinwegzuflattern, Fotografen zu erschrecken oder Sandwich-Brosamen zu picken. Ihnen ist es egal, ob Venedig untergeht, oder nicht, Umweltprobleme, verschmutzte Luft, dreckiges Wasser, das interessiert sie nicht. So lange sie auf den Köpfen der Heiligen, Dogen und unzähligen Löwen sitzen können und von den Leuten gefüttert werden, interessiert sie rein gar nichts. Sie vermehren sich, fliegen in die ersten Morgensonnenstrahlen und in die roten Sonnenuntergänge hinein, grad wie es ihnen passt. Manchmal beobachten sie auf den vergitterten Fenstern der Seufzerbrücke die Besucher der Gefängnisse im Dogenpalast. Waren sie auch dort, als Casanova in die Bleikammern geführt wurde?

Casanova (1725-1798) war ein venezianischer Abenteurer und Schriftsteller. Seine Eltern, beide Schauspieler, hatten ihn für das Priesteramt vorgesehen. Wegen ungebührlichem Benehmen wurde er jedoch aus dem Priesterseminar ausgeschlossen. Da wurde er eben Sekretär und Soldat, Prediger, Alchemist, Spieler, Spion und Schürzenjäger. Wegen Gotteslästerung und Zauberei hätte er in den besagten Bleikammern schmoren müssen, es gelang ihm aber eine spektakuläre Flucht. Er bereiste darauf ganz Europa, wurde Favorit am Hofe Ludwigs XV. von Frankreich und Charmeur und Liebhaber der Marquise de Pompadour. Auf Schloss Dux in Nordböhmen, bei seinem Freund Graf von Waldstein, schrieb er in französischer Sprache seine Memoiren in zwölf Bänden, die erst nach seinem Tod veröffentlicht wurden. Abenteuer und Liebesaffären, wirklichkeitstreue Schilderungen verschiedenster Charaktere und ein einmaliges Sittengemälde seiner Zeit bringt uns das Werk. Jedes Jahr zur Carnevale-Zeit feiert er seine Auferstehung, denn viele Leute schlüpfen gerne in die Figur des Frauenhelden Casanova, gekleidet in Seide und mit Rüschen verziert.

 

Carlo Goldoni

 

Einige Gehminuten von der Piazza San Marco entfernt trifft man auf das Teatro Carlo Goldoni. Dieser am 25. Februar 1707 in Venedig geborene Dramatiker gilt als Begründer der modernen Komödie innerhalb der italienischen Literatur. Mit 14 Jahren schloss er sich bereits einer reisenden Schauspielertruppe an. Später studierte er Philosophie und Jura an der Universität von Padua. In Venedig arbeitete er als Advokat und begann gleichzeitig Dramen zu verfassen. Nach dem Vorbild Molières aber fing er an, Komödien zu verfassen. Stoff für Ideen fand er genug in den engen Gassen seiner Heimatstadt. In 150 Komödien in Alltagssprache und venezianischer Mundart schilderte er seine Zeitgenossen, ihre Eigenarten und ihr Benehmen. 1761 verliess er die Stadt, nicht ganz freiwillig, er hatte seinen Mitbürgern zu oft den Spiegel vorgehalten und wurde deswegen nicht mehr gern gesehen, um in Paris das italienische Theater zu leiten. Anlässlich der Heirat des späteren König Ludwig XVI. mit Marie Antoinette verfasste er Komödien auf Französisch und in derselben Sprache in Versailles seine Lebenserinnerungen.

Es war köstlich, am Abend die müdegelaufenen Beine im Hotelzimmer hochzulagern und in Goldonis "Diener zweier Herren" zu lesen. Wer es kann, dem empfehle ich dringend, es in Originalsprache zu lesen, die Mühe lohnt sich. Das Venezianische ist eine reizende, wohltönende, weiche Sprache. Der Witz des bergamaskischen Dieners im Stück ist eine Wohltat. Zum Glück ist jede Seite meiner Ausgabe mit Erklärungen in den Fussnoten gespickt. Viele Wörter lassen sich auch aus dem Französischen ableiten und man entdeckt Wortzusammenhänge, auf die man sonst nicht gekommen wäre. Doppellaute gibt es auf Venezianisch nicht, dafür viele Wortverkürzungen. "Anzolo" steht für "Angelo" und "San Zanipoli" für die Kirche "Santissimi Giovanni e Paolo". Es ist eben alles anders in Venedig, und so ist es nicht erstaunlich, dass die Stadt in ihrem Dialekt "Venexia" heisst.

 

Anzelo

 

Eine Kostprobe vom bergamaskischen Dialekt des Dieners Truffaldino muss ich unbedingt hier anfügen:

"Ghe n'è tanti che cerca un padron, e mi ghe n'ho trovà do.

Viele suchen einen Herrn, und ich finde davon gleich zwei.

Come diavol oia da far?

Wie zum Teufel werde ich das tun?

No la saria una bella cossa servirli tutti do, e guadagnar do salari, e magnar el doppio?

Wäre das nicht schön, beiden zu dienen, und zwei Löhne zu verdienen, und das Doppelte zu essen?"

Um nicht als Angeberin zu gelten muss ich gestehen, dass ich vollkommen hilflos dastehen würde, wenn ich diese Sprache nur hören würde, beim Lesen hat man Zeit, sich alles zurechtzulegen und zu verstehen. Würde mich jemand auf der Strasse in diesem Dialekt ansprechen und etwas fragen müsste ich auf Venezianisch antworten: Mi no lo so! Ich weiss es nicht.

Ein weiteres Theaterstück von Goldoni heisst "Das Kaffeehaus". Als Teenager kannte ich mal grosse Teile dieses Stücks auswendig, auf Deutsch natürlich, da ich eine klitzekleine Rolle darin bekam und passioniert bei allen Proben dabei war. Die alte Basler Komödie ist längst abgerissen, den Text habe ich bis auf kleine Stellen vergessen, aber viele Erinnerungen an schöne Abende, mit Robert Tessen, Robert Messerli, Anne-Marie Blanc und Maximilian Wolters, der verführerische Parfüm-Schminke-Duft im engen Gang vor dem eigentlichen Eingang des in rotem Samt eingekleideten Theaterchens sind noch sehr lebendig.

Der sehr tiefschürfende Text des Stücks war mit ebensolchen Liedern durchzogen. Eine Kostprobe:

Kaffee, Kaffee,

edelste Nahrung der Seele,

Kaffee, Kaffee,

tröst uns was auch immer gescheh'!

Goldoni, Kaffee, Venedig, was haben die drei Dinge miteinander zu tun? Im Lexikon findet man den Zusammenhang:

 

Serenata

 

"Die beiden ersten bekannten Kaffeehäuser, kahveh-kanes genannt, sollen 1554 in Konstantinopel (dem heutigen Istanbuls) eröffnet worden sein; sie erfreuten sich grosser Beliebtheit und erhielten bald eine zahlreiche Konkurrenz. Nach Europa gelangte der Kaffee über Venedig. Hier wurde, wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, das erste europäische Kaffeehaus (die "Bottega da caffè" am Markusplatz) eröffnet, dem auch hier sehr schnell viele weitere folgten. Von der Begeisterung für das neue Getränk zeugt das 1750 geschriebene Stück "La Bottega del caffè "des venezianischen Dramatikers Carlo Goldoni. Von Venedig fand die neue Kaffeehauskultur rasch ihren Weg in die Metropolen Europas, nach Mailand und Rom, nach Paris, Zürich und London. Als Zeichen dafür, dass die Cafés sich schon in ihren Anfängen als Treffpunkte etablieren, in denen die Themen der Zeit diskutiert wurden, kann das kurzzeitige Erscheinen einer politischen wie literarisch-philosophischen Zeitschrift unter dem Titel "Il Caffè" in Norditalien gelten; in Übersetzungen lag sie in den europäischen Cafés aus.

So hatte und hat Venedig seine Wichtigkeit, früher wie heute. Wenn Pessimisten den Tod von Venedig vor Augen haben, so erfreuen sich doch viele Optimisten am Leben dieser Stadt. Sie scheint, vor allem von den Inseln aus gesehen, wie wenn sie täglich neu aus den Fluten aufsteigen würde, der Eindruck verstärkt sich, wenn die Piazza noch nass ist vom Hochwasser, das wir dieses Jahr nicht erlebt haben.

 

Spiegelbild im Hochwasser

 

Und wie sie lebt, diese Stadt die alle Sinne anzuregen weiss! Wer sich die Zeit zum Herumstreunen nehmen kann erlebt eindrücklich, wie alle Gerüche und Geräusche in den kleinen menschenleeren Gässlein verstärkt werden. Düfte von schlammigem Wasser, von frisch gewaschener Wäsche, Fischmarktdüfte mischen sich mit dem Geschrei der Möwen, die aufgeregt einen Happen Abfall zu ergattern versuchen. Glocken aller Art scheinen den ganzen Tag zu bimmeln, zu läuten und zu dröhnen, der Ruf der Gondolieri wechselt sich ab mit dem Hupen der Boote, die Waren transportieren. Das Pfeifen der Vögel in den Zweigen der Bäume, die in den versteckten Gärten hinter den vielen Mauern wachsen und die einen immer wieder überraschen tönt viel intensiver, viel lebenslustiger als anderswo. Das Trappeln und Trippeln der Schritte der sich durch das Labyrinth unzähliger verwinkelter Gassen gehenden Leute, das "Zao!" der sich Begegnenden, alles tönt viel geheimnisvoller als anderswo. Das Wasser in den Wasserstrassen reflektiert Häuserzeilen und Sonnenstrahlen, es stinkt, umspült, trägt Abfall fort, steigt und sinkt, frisst sich ein in die Mauerritzen, glitzert, gluckst, ernährt die Gondolieri und ihre Familien, nagt an den Pfählen und ist eine grosse Einnahmequelle der Stadt.

 

Wassermalerei

 

Venedig ist ein Traum, den jeder auf seine persönliche Weise träumt und ausschmückt. Jeder sieht darin, was er sehen will. Egal wer, jeder muss fasziniert sein von der Einmaligkeit, Vielseitigkeit und Unverwechselbarkeit dieser Stadt. Man kann sich nicht an diese Stadt gewöhnen, sie wird einem nie gleichgültig, denn sie zieht einen jedes Mal wieder in ihren Bann.

Venedig stirbt? Es lebe Venedig!

 

Evelyne Scherer

 

Fotos: Evelyne und Michael Scherer

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