Einleitung: Als Vorbereitung auf den "Carnevale di Venexia" durchstöberte ich Lexikon und Internet und fand dabei zur Geschichte des Karnevals folgendes:
"Der Karneval begann jeweils mit prächtigen Bällen auf den grössten Plätzen Venedigs. Im Lauf der Wochen gab es dann immer wieder spontane Feste bis zum Fastnachtsdienstag, wenn um Mitternacht die Totenglocken der Kirche San Francesco della Vigna die Fastenzeit einläuteten."
Und
"Der Carnevale begann jedes Jahr am 26. Dezember, dem Stephanstag, und erreichte seinen Höhepunkt am Fastnachtsdonnerstag. In dieser Zeit verloren viele Gesetze der Republik ihre Gültigkeit. In Kostüm und Maske waren soziale Unterschiede vorübergehend aufgehoben, wenngleich die festgeschriebene Rangordnung der offiziellen Feste sie eher betonte. Das venezianische Volk okkupierte die Campi, den Markusplatz und die Innenhöfe, die zu regelrechten Bühnen wurden, wo man sich zeigte, tanzte, sang, schlemmte und spielte. Masken waren so beliebt, dass schon im 15. Jh. die Maskenhersteller ihre eigene Zunftordnung hatten. Einige Kostüme wurden aus der Commedia dell'arte übernommen, dem Stegreif-Theater, das auf den Campi aufgeführt wurde."
Und
"Der Karneval heute
Seit 1980 gibt es wieder Masken in Venedig: traditionelle Kostüme aus dem 18. Jh. begegnen den ausgefallensten Eigenschöpfungen. Wie früher veranstaltet man Bälle und Theateraufführungen und lässt die alten Spiele wieder aufleben. Am letzten Tag schliesslich wird auf dem Markusplatz das Abbild des Karnevals verbrannt - so wie es die Tradition verlangt."
Ein anderer Artikel belehrte mich:
"Für das Wort Karneval gibt es verschiedene Ableitungsversuche. Eine Möglichkeit besteht darin, dass das Wort von dem Lateinischen carne vale (Fleisch, lebe wohl) herrührt. Denkbar ist auch eine Ableitung von carrus navalis (Schiffskarren; bezogen auf Frühjahrsumzüge zum Wiederbeginn der Schifffahrt). Die Karnevalstage haben ihren Ursprung in römischen und byzantinischen Frühlingsfesten. Nachdem seit dem 15. Jahrhundert in Venedig prachtvolle Karnevalsfeiern durchgeführt worden waren, führte man die Bezeichnung Karneval im 17. Jahrhundert auch in Deutschland ein. Karneval bezeichnete ursprünglich den Sonntag vor dem Aschermittwoch und dem Beginn der Fastenzeit. Dies war sozusagen die letzte Gelegenheit zum Vergnügen sowie zum ausgiebigen Essen und Trinken."
Nachdem wir vor drei Jahren zum ersten Mal den Carnevale in Venedig erlebt hatten, allerdings nur einen Tag lang, beschlossen wir für dieses Jahr, so richtig und ausgiebig in dieses Fest einzutauchen. Unsere Reisegruppe bestand aus vier Personen, Angelina (Venedigneuling) und Frederico, Michele, dem Reiseplaner und -leiter und mir.
Gewissenhaft versorgte uns Michele schon vor der Reise mit ausführlicher Dokumentation, der Reiseroute und den genauen Daten für die Zugfahrten. Im Plan ausgeschlossen war eventueller Streik der öffentlichen Verkehrsmittel, mit welchem man (fast) immer rechnen muss. Im Vorfeld hatte er über die beste Route gebrütet, Hotelzimmer reserviert, bezahlt und den Voucher ausgedruckt.
Reise nach Venedig 14. - 20. Februar 2004
14. Februar
Madulain ab 8.29 / Pontresina an 8.55
Pontresina ab 9.03 / Tirano an 11.11
Tirano ab 12.45 / Lecco an 14.46
Lecco ab 15.08 / Bergamo an 15.50
15. Februar
Bergamo ab 8.22 / Venezia an 11.22
Vaporetto Venezia
1 Fahrt ohne Canal Grande Euro 3.50 / 1 Fahrt mit Canal Grande Euro 5.00
24-Stundenkarte Euro 10.50
72-Stundenkarte Euro 22.00
20. Februar
Venezia ab 10.51 / Milano an 13.55
Milano ab 14.15 / Tirano an 16.42
Tiranoab 16.50 / Pontresina an 18.56
Pontresina ab 19.02 / Madulain an 19.21
So rollten und holperten vier mit warmen Kleidungsstücken beladene Koffer am 14. Februar in aller Herrgottsfrühe bei -12° hinter vier vermummten Gestalten Richtung Madulain Bahnhof, genau nach Zeitplan! Im Gepäck trugen wir viele Erwartungen und Wünsche mit. Im Internet hatten wir gelesen:
7. Februar 2004 17:56
Schleppender Karnevalsauftakt in Venedig
VENEDIG - Der Auftakt zum Karneval in Venedig ist eher schleppend verlaufen. Die wenigen Maskenträger verloren sich im Nebel. Touristen reisten dennoch viele an. Die findigen venezianischen Stadtväter hatten den Karnevalsbeginn dieses Jahr eigens um eine Woche vorverlegt - um die Ausfälle des Touristenjahres 2003 wieder gut zu machen, wie Spötter meinen. Um den Menschenstrom in rechte Bahnen zu lenken, hat sich die Polizei diesmal etwas Besonders ausgedacht: Wenn das tolle Treiben erst mal so recht in Schwung kommt, werden die engen Gassen zwischen Markusplatz und Rialtobrücke einfach zu Einbahnstrassen erklärt. Wer trotzdem in die Gegenrichtung läuft, zahlt bis zu 500 Euro Strafe. "Erster Karnevalsscherz der Saison", wundert sich eine venezianische Lokalzeitung.
Die Karnevalsaison steht unter dem Motto "Oriental Express", in Erinnerung an den grossen Chinareisenden Marco Polo, ein Sohn der Serenissima. Bis zum Karnevalsdienstag am 24. Februar werden insgesamt 1,5 Millionen Besucher erwartet, Venezianer wagen sich dann eher selten maskiert auf die Strasse."
Das konnte ja schön werden! Vom Zug durch die Morgenstimmung geschaukelt verirrten sich meine Gedanken kurz in Carlo Goldonis Komödie HERREN IM HAUS (I RUSTEGHI 1760):
Bereits am Anfang des Lustspiels lässt er Margarita ihrer Stieftochter aus der Zeit berichten, als sie noch mit ihren Eltern lebte und sich viel weniger langweilte, als mit ihrem bärbeissigen Ehemann, der sich und andern kein Vergnügen gönnt und es im Lauf des Stücks sehr zu bereuen haben wird:
"Meine Mutter war zwar eine diffizile Frau, und wenn ihr was nicht passte, dann konnte sie wohl schelten und auch ihre Hände gebrauchen; aber zu jener Zeit hat sie uns doch stets unser Vergnügen gegönnt. Man denke sich nur, im Herbst ist man zwei- oder dreimal ins Theater gegangen und im Karneval fünf- oder sechsmal. Hat ihr jemand seinen Logenschlüssel gegeben, dann hat sie uns in die Oper mitgenommen, sonst ging's in die Komödie; und sie hat schon immer ihre anständigen Schlüssel gekauft und ihr gutes Geld dafür ausgegeben. Ihr war's darum zu tun, in gute Komödien zu gehen, von denen sie wusste, dass sie auch ihre Töchter mitnehmen konnte; und so sind wir zusammen hingegangen und haben unser Vergnügen gehabt. Manchmal sind wir auch, man denke sich nur, ins Ridotto (Vergnügungsstätte, Ridotto von S.Moisé) gegangen, ein bisschen vor den Dogenpalast zu den Wahrsagerinnen oder zu den Marionetten und einige Male auch zu den Holzbuden..."
Man denke sich nur: Genau das hatten auch wir vor! Während der Zug in Richtung Tirano tuckerte, ab und zu freudig auf den kalten Schienen quietschte "Achtung, wir kommen!", genossen wir die traumhafte Luxuslandschaft, vor dem inneren Auge baute sich aber der Dogenpalast schon auf, die Kanäle, Brücklein, die Masken und die Kirche San Giorgio. Das Theater La Fenice, das im Dezember wieder in alter Schönheit nach dem Brand vor sieben Jahren wie ein Phönix aus der Asche auferstanden und neu eröffnet worden war, hätte Michael gerne ins Reiseprogramm aufgenommen. Aber: Keine freien Billette!
Angelina lenkte uns mit einer charmanten Geste ab: Es war Valentinstag und sie überraschte uns alle mit einem reizenden Päcklein: Ein Lotterielos für jeden! Ich zog das grosse Los: 10 Fr. am Kiosk abzuholen! Hurra!! Frederico braucht noch viel Geduld: Er kann sein Los einsenden und vielleicht damit die Million gewinnen! Viel Glück! Bei Brusio genossen wir die Fahrt auf der Open-Air-Bahnschlaufe. In Tirano hätte Frederico fast schon viel Geld verputzt, ein handlicher CD-Brenner lockte. "Damit könnte man die Digitalaufnahmen sofort umladen und somit viel freien Speicherplatz gewinnen?" Nein, doch nicht kaufen? Also fahren wir weiter!
Pünktlich kamen wir in Bergamo an. Ein Spaziergang durch die auf einem Hügel liegende, von der prächtigen venezianischen Mauer aus dem 16.Jahrhundert umschlossene Altstadt (Città Alta) drängte sich auf und die Aussicht auf das italienische Alpenpanorama. Petrarca, Stendhal, Hermann Hesse, Gabriele D'Annunzio, Hemingway und Le Corbusier hatten sich schon an der Sicht über alle Dächer der Città Bassa erfreut. Wahrscheinlich auch am Hauptplatz mit dem Contarini Brunnen und seinen Löwen, dem romantischen Treppenaufstieg zum Campanone mit dem beleuchteten Glockenturm, dem Wahrzeichen von Bergamo. Immerhin schrieb laut Führer Le Corbusier: "... one of the most beautiful town-squares in the world". Uns beeindruckte vor allem die Colleoni-Kapelle, die geheimnisvoll von innen heraus zu leuchten schien. Die war ursprünglich das Mausoleum für den Kondottiere Bartolomeo Colleoni (und nicht Canneloni, wie ich zuerst las, denn ein ausgewachsener Hunger plagte mich bereits!), also Colleoni, dem berühmtesten Krieger, ausgesucht von den Venezianern, als Oberbefehlshaber zu Lande. Nebenbei erfuhr man, dass Donizetti hier lebte und starb; ihm ist ein Theater, eine Strasse und ein Museum gewidmet. Der beliebte Papst Johannes XXIII stammte aus der Gegend. Das Hahnen-Wasser von Bergamo sei eines der saubersten in Italien und polenta e osei (= Spatzen) sei hier ein typisches Gericht. In den Schaufenstern der Bäcker lockten halbkugelförmige Süssigkeiten, polenta dolce genannt, Schokolade und schön geformte Brote. Ich bleib dabei, speziell in Bergamo locken viele wunderschöne Bäckereien mit lauter Süssigkeiten, die schon dick machen, wenn man sie nur anschaut, Michael zog mich deswegen pflichtbewusst von jedem Schaufenster weg. Hunger! Anscheinend war man gar nicht bestrebt, mich bis Venedig am Leben zu lassen zu wollen! Bis um sieben Uhr mussten meine arbeitslosen Magennerven durchhalten, erst dann wollte man uns im Restaurant einlassen!
Nach einer angenehmen Nacht und einem ebensolchen Frühstück im Hotel Excelsior San Marco rollten und holperten am 15. Februar (Sonntag) in aller Herrgottsfrühe wiederum vier mit warmen Kleidungsstücken beladene Koffer, aber erleichtert durch unsere zunehmende Vorfreude und Erwartungsnervosität hinter vier nicht ganz so arg vermummten Gestalten zum Bahnhof in Bergamo; Bergamo ab 8.22 Uhr; Venezia an 11.22 Uhr. Mit jeder Station nahmen die Wagenladungen des Zuges zu. Offensichtlich waren wir nicht die Einzigen, die dasselbe Ziel ausgesucht hatten? Die Bestätigung fanden wir am Bahnhof S.Lucia, Venezia! Goldonis Margarita hätte gesagt: "Man denke sich nur: ein Betrieb wie in einem Ameisenhaufen bei Grossalarm!" Alle Leute, Koffer und Taschen wurden fast wie in einem Sog und wie eine zähflüssige Masse mitgerissen, Richtung Ausgang, Richtung Vaporetto-Haltestellen 1 und 82, um auf schnellstem Weg durch den Canal Grande zum Markusplatz zu gelangen. Beinahe hätten wir unsere Angelina verloren! Schlau wie unser Reiseleiter eben ist, wählte er im Gegensatz zu den meisten anderen Carnevalebesuchern den andern Weg, den in die "verkehrte" Richtung, die, die an den Zattere vorbeiführte, um unseren Freunden schon bei der Ankunft die schönste Sicht auf die Traumstadt zu gönnen, die Sicht, die früher alle ankommenden Seefahrer genossen, quasi die durch den Vordereingang der Stadt, die Sicht auf Paläste und Türme, die aus dem Wasser herauszuwachsen scheinen. Wie heisst doch die Überschrift: Schein, Trug, Wirklichkeit! Darüber sollten wir noch oft während der ereignisreichen Tage meditieren.
Kaum waren unsere Koffer im Hotel Vivaldi, Richtung: zwei Brückchen rechts vom Dogenpalast, verstaut, lockte das Fotografenvergnügen, die Jagd nach Maskierten, das Schnappschussfieber fing an, sich zu entwickeln. Um uns im Menschenmeer wieder zu finden, vereinbarten wir jeweils um welche Zeit wir uns wieder beim Campanile treffen würden.
In der oben schon erwähnten Komödie Herren im Haus tritt Lunardo, der Ehemann auf. Hier das Gespräch zwischen ihm, seiner Frau Margarita und seiner Tochter Lucietta:
LUNARDO: Hör dir so einen Unsinn an! Was bin ich denn? Ein Tatarenmensch? Ein Wüterich? Worüber könnt ihr euch beklagen? Was ehrbar ist, gefällt auch mir.
LUCIETTA: Ach, dann führt uns doch ein bisschen in Maskierung aus!
LUNARDO: In Maskierung? In Maskierung?
MARGARITA für sich: Jetzt platzt er gleich.
LUNARDO: Und ihr untersteht euch noch, mir zu sagen, ich soll euch in Maskierung ausführen? Habt ihr vielleicht jemals gesehen, dass ich mir eine, kommen wir zur Sache, Larve vors Gesicht gesteckt hätte? Was ist denn diese Maskierung? Warum geht man denn in Maskierung? Das will ich gar nicht erst aussprechen; junge Mädchen haben jedenfalls nicht in Maskierung zu gehen!
MARGARITA: Und Ehefrauen?
LUNARDO: Auch Ehefrauen, nein, siora: auch nicht Ehefrauen!
MARGARITA: Und die anderen, man denke sich nur, warum gehen denn die?
LUNARDO sie wegen ihrer ständigen Redensart verspottend: "Man denke sich nur, man denke sich nur!" Ich kümmere mich um meine eigenen vier Wände und nicht um andere Leute...
MARGARITA ebenso: Weil ihr, "kommen wir zur Sache", ein Bärbeisser seid!
War das möglich? Trügte der Schein oder war alles noch so wie in Goldonis Zeiten? Liessen heute noch (fast) alle italienischen Ehemänner ihre Frauen und Töchter nicht auf die Gasse? Jedenfalls tönte es, wenn die Masken ein wenig Zeit fanden, miteinander zu reden, gar nicht nach Venezianisch, wenig nach Italienisch, sondern vielmehr Französisch (aus Frankreich und Belgien), Deutsch (etwas weniger als Französisch), dazu hörte man auch ein bisschen Englisch und Amerikanisch. Japanische und andere asiatische Reiseleiter, auch chinesische, führten mit Mühe ihre Gruppen durchs Getümmel. In allen Sprachen wurde die Architektur der Kathedrale S. Marco und der unbeschreiblichen Piazza beschrieben. "Ah!" - "Oh!" - Knips!
Was für Menschen verbargen sich denn hinter den typischen alt-venezianischen Kostümen und Masken und Fantasie-Kreationen? Da waren viele ausländische "Eingesessene". Immer wieder traf man sie, sie kamen allein, zu zweit, in Gruppen. Sie kannten schon seit Jahren den Fotografentreffpunkt, die wunderbare, einladende Treppe vor der Kirche San Giorgio und ihre Marmorfassade, auch den guten Einfallswinkel des Lichts der untergehenden Sonne, der zum Schwelgen schön ist. Davor platzierten sich die Modelle mit mehr oder weniger gekonnter Gestik. Sie liessen sich aber auch vor der Serenissima als Kulisse fotografieren. Deutsche Fotografen und Modelle entstiegen dem nächsten Vaporetto. Die Masken begrüssten sich mit vornehmem Kopfnicken, Umarmungen oder dezenten Handbewegungen. Ein internationaler Fotowettbewerb war in vollem Gange. Glücklich, wem die Filme nicht ausgingen (auf dem Lido kann man übrigens viel billiger Nachschub holen, als im Zentrum von Venedig, sollten wir bei einem Abstecher feststellen), und glücklich, wer durchhaltefreudige Batterien und gute Speicherkarten sein Eigen nannte. Profis und Amateure mischten sich munter, jeder war bestrebt, den besten Schnappschuss zu schiessen, die beste Pose festzuhalten. Hier auf der Insel San Giorgio war das kein Problem: wenig Touristen, kein Gedränge, keine Passanten hinter den Modellen, jede Menge geduldig und ruhig stehender Masken. Was wollte man noch mehr?
Illusionen mussten her! Man suchte bildgewordene Traumfiguren, Götter, Dämonen, zarte vielfarbige Figuren mit allerhand Verzierungen, mit Accessoires wie Vogelkäfigen, Szeptern, Vögelein und Schmetterlingen, Blumen in allen Formen und Farben, Körbchen und Füllhörnern. Dem Meer entstiegene Fabelwesen und königliche Herrschaften gaben sich ein Stelldichein.
In einem guten Kostüm kann man Aufsehen erregen, tagelang im Mittelpunkt stehen, bestaunt, bewundert und fotografiert werden. Die Menschenmenge teilt sich und lässt ehrerbietig den Masken einen Durchgang. Wenn das nicht süchtig macht! Jeder kann sich darstellen, sich feiern lassen, im Zentrum stehen. Für ein paar Tage wird man König und Königin, Traumfrau, ein feenhaftes Wesen. Man posiert als Casanova, Meeresgott, Engel, Schmetterling, Blumengarten oder Pan. Sogar Schosshündchen, die letztgenannten, mit Ausnahme des bekannten Hündchen Ugos natürlich, nicht immer ganz freiwillig, liessen sich feiern.
Die Körpersprache und die zufallenden Augen hinter den Seh-Aussparungen der Larven verrieten am Ende des Tages, dass ein Mancher zum Umfallen müde war und sich nur noch nach seinem Bett sehnte. Das Bewundertwerden, die ständige Präsenz vor der Masse der schnappschusshungrigen Fotografen und die Spaziergänge durch die Menge forderten eben auch Energie. Natürlich auch die Kälte, die Nässe, das windige Wetter waren nicht gerade das, was sich die Masken ersehnt hatten. Die Kehrseite der Medaille.
Stimmungsvoll waren die Figuren auf den Brücken und in den Gässchen, die ganz einfache, traditionelle Kostüme trugen, wie beispielsweise die Bauta und den langen, schwarzen Umhang mit Kapuze, den man über der üblichen Kleidung tragen und somit vor Kälte geschützt das Fest geniessen kann. Früher war die Bauta ein kurzer, durch Spitzenstickerei verzierter Umhang mit einer schwarzen Seidenkapuze, der über dem weiten Cape (Tabarro) getragen wurde. Mit dieser Verkleidung und der weissen Maske, die das Gesicht fast verdeckte, konnte und kann man unerkannt umherstreifen, Theatervorstellungen und Konzerte geniessen. In der heutigen Zeit sieht man die schwarzen Umhänge und weissen Halblarven über die kleinen Brückchen huschen. An jeder Ecke hätte man sich hinsetzen können, um sich kunstvolle farbige oder goldene Verzierungen auf die eine Gesichtshälfte malen zu lassen. Schliesslich gab es die Leute, die auch nur das Gesicht und den Kopf verdeckten (Larve und Dreispitz oder Fantasiehut), die sonst aber in "Zivil" herumspazierten. Na ja, wir meinten dazu: Entweder ganz kostümiert oder gar nicht!
Reizvoll waren auch die verkleideten Gestalten, die mit blossem Gesicht, die Damen mit auffallendem Strassstein-Schmuck, die manchmal vor dem traditionsreichen Café Florian, in dem schon Balzac, Mark Twain, Thomas Mann, Hemingway, Lord Byron und viele andere Berühmtheiten eingekehrt waren oder im gegenüberliegenden Quadri am Markusplatz Schlange standen, um dort gesehen zu werden, mit Bekannten zu soupieren oder eine Tasse heisse Schokolade zu schlürfen.
Anfänglich knipsten wir, was uns vor die Linse kam, später wurden wir wählerisch; das Angebot, vor allem am Wochenende war so gross. Bald wussten wir auch, wo wir die beste Sicht auf Modelle ergattern konnten: Die Säulen vor der Basilika San Marco waren als Standort von den Kennern sehr beliebt, vor allem von den Masken, die nicht durch voluminöse Kostüme am Klettern behindert wurden. Die Terrasse vor dem Eingang des 99 m hohen Campaniles war sehr fotogen: Auf der Balustrade konnten sich die Masken ohne Zuschauer im Hintergrund präsentieren und das Volk der Fotografen und Zuschauer regieren, auf der Marmorbank wurden die schimmernden und schillernden Stoffe der weiten Kostüme wirkungsvoll drapiert. Die Säulengänge des Dogenpalastes waren auch geeignet, um sich hinzustellen und sich feiern zu lassen, ebenso die Brücke mit Sicht auf die Seufzerbrücke.
Auch wir Fotografen brauchten ab und zu mal eine Pause. Die suchten und fanden wir beispielsweise in der grössten Kirche von Venedig, der Franziskanerkirche S. Maria Gloriosa dei Frari. Die 124 kunstvoll geschnitzten Sitze im Chorgestühl mit Einlegearbeiten (alles ist einmalig und vollständig erhalten, ausser dass einem goldigen Engelchen ein Flügel abhanden gekommen ist, ein anderes Engelchen fehlt ganz und ist vermutlich ausgerissen und noch nicht heimgekehrt), und das vielbesuchte, berühmte Meisterwerk von Tizian, die Assunta (Mariae Himmelfahrt, 1518 entstanden) sind immer wieder ein Erlebnis.
Und erst noch die modern anmutende, neoklassizistische Grabpyramide für Antonio Canova (gest. in Venedig 1822), dem genialen Bildhauer! Er entwarf sie selbst und sie war eigentlich für Tizians Grab bestimmt, doch da Canova frühzeitig starb, vollendeten sie seine Schüler 1827 und verwendeten sie für ihn. In einer Porphyr-Urne enthält sie das Herz des Bildhauers (sein Leichnam ruht in Canovas Geburtsort Possagno). Mich ergreifen jedes Mal die Allegorien der Künste vor dem "Eingang" des Grabmals, die weinende Bildhauerkunst, die Malerei und die Architektur, durch drei Frauengestalten dargestellt, drei kleine Genien mit brennenden Fackeln. Links, am Fuss der Pyramide der Genius Canovas mit der erloschenen Fackel (Tod) und ein Löwe. Die reinste Schönheit und Trauer in Marmor! Sogar der auf den Stufen liegende Löwe, der Venedig symbolisiert, scheint trostlos und vom Tod des Genies erschüttert zu sein. Ich könnte mich Johann Gottfried Seume anschliessen, der in seinem "Spaziergang nach Syrakus" in Venedig anlangt, Canovas Göttin Hebe sieht und ausruft: "Ich muss Canovas Hände küssen, wenn ich nach Rom komme, wo er, wie ich höre, jetzt lebt!" Wer dieses Grabmal einmal gesehen hat, kann es nie mehr vergessen, behaupte ich.
Und wer mir ebenso unvergesslich bleibt: Der Bischof Jacopo Pesaro, der Lombarde (gest.1524), der auf seinem Marmorgrabmal lässig Daliegende und sehr lebendig wirkende stützt sich auf einem Ellbogen auf und überblickt die Besucher der Kirche. "Was habt ihr doch für Sorgen, da unten! Ich hab keine mehr! Carpe diem, der Rest kommt von selbst!" Pesaro, der im Dienst des Papstes gegen die Türken gekämpft hatte, liess sich noch zu Lebzeiten das Grabmal errichten, die Erben hatten nur noch die Daten einzusetzen. Die Inschrift ist eine Meditation: "Dem Bischof gelang es, die Feinde zu besiegen; es gelang ihm aber auch sich selbst zu besiegen, was das viel Schwierigere ist!" So, jetzt wissen wir, was wir noch zu tun haben und weswegen er so unbekümmert zu uns runterblicken kann!
Als gewissenhafte Reiseleiter konnten wir Angelina und Frederico die Scuola Grande di San Rocco, ein MUSS, nicht vorenthalten! Und schon wieder schwelgten wir in optischen Genüssen, in 56 Meisterwerken von Tintoretto, die Geschichten aus dem Alten und dem Neuen Testament darstellen; auch die aufwändigen Holz-Schnitzereien, die in Leder gebundene Bücher vortäuschen und Menschenfiguren aller Arten, die im Begriffe sind, von den Sockeln zu steigen um sich unter die Menschen zu mischen und ein wenig Bewegung zu geniessen sind immer wieder eine Reise wert.
Um uns noch venezianischer zu fühlen, wagten wir die Überfahrt des Canalazzos in einem Traghetto, einer Fähr-Gondel. Die Einheimischen brauchen gerne zusammengezogene oder verkürzte Wörter, somit ist Canalazzo eine Verbindung von Canale und Palazzo. Wer Übung hat steht ohne Herzklopfen in der Gondel, die von zwei Gondolieri gerudert wird. Allerhand Boote versperren ihnen bei der Arbeit im Weg, da braucht es schon eine laute Stimme und eine überzeugende Wortwahl um sich die Durchfahrt zu erzwingen. Angelina musste sich plötzlich am Arm einer Dame festhalten; die zuckte mit keiner Wimper und war offenbar schon oft Gleichgewichtsanker für Touristen gewesen. So eine Fahrt ist natürlich viel spannender, wenn auch nicht so romantisch, als das ruhige Dahingleiten in einer Gondel. Das wäre in der Planung gestanden, wurde aber wegen schlechtem Wetter verschoben.
Einen Blick auf den prächtigen, reich geschmückten gotischen Palazzo Ca d'Oro, dessen Fassade einst mit Blattgold ausgekleidet worden war und ein Spaziergang über den gegenüberliegenden Fischmarkt durfte man, unseren Freunden zuliebe, nicht auslassen. Die vielen Verkaufsstände mit Fischen aller Art und Grösse waren von den Farben und Formen her für die Augen wohl eine Weide. Aber die weit aufgerissenen, nach Luft schnappenden Mäuler der noch zuckenden Fische versetzte mich nicht in Entzücken. Waren es nicht eine Art lebendiger Leichen, die da ausgestellt wurden? Wenn ein Verkäufer noch eine Handvoll seppie nere in die Höhe hielt, und die ihre Tentakeln wie schlaffe Spaghettis hängen liessen, so konnte ich nur schaudernd die Augen verdrehen, obwohl die auf dem Speisezettel der besten Restaurants zu finden und als venezianische Spezialität nicht nur die Leibspeise der Japaner sind. Und die Scampis, die noch kribbelten und krabbelten! Rasch weg von hier! Erholen konnte ich mich auf der millionenfach fotografierten Rialtobrücke, die mit einem einzigen Bogen den Canale Grande elegant überspannt.
Es ist zum Aus-der-Haut-fahren! Venedig bietet so viel. Wie soll man jemandem ein umfassendes Bild dieser Zauberstadt geben, die ständig ihr Gesicht, ihre Farben, ihre Stimmungen und Gerüche ändert? Wir hatten Glück, unsere Freunde wurden ziemlich schnell mit dem Venedig-Fieber angesteckt. Frederico erwischte sogar das "Brücklein-Fieber". Am liebsten wäre er die ganze Nacht unterwegs gewesen, von einer Brücke zur andern stapfend, auf der Suche nach Lichtreflexen auf Wasser, nach Spiegelbildern und harmonischen Formen. Er sehnte sich nach einer warmen Sommernacht, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Ha! Venedig hatte ihr Ziel erreicht! Unsere Freunde hatten angebissen und waren schon am Pläneschmieden für die Zukunft!!! Es wäre auch reizvoll, alle Marmor-Mosaik-Böden in Venedig fotografisch zu erfassen. Manche sind so kunstvoll wie ein Patchwork zusammengesetzt, dass die Quadrate oder Rechtecke interessante optische Täuschungen, Vertiefungen und Verzerrungen hervorrufen. Leider ist das Fotografieren in der Markuskirche nicht erlaubt, viel Motive ziehen das Auge an. Dasselbe in der Kirche San Giorgio. Zum Glück ist die Aussicht über die ganze Stadt und die Lagune, die unsere Freunde vom Turm dieser Kirche genossen zum Fotografieren frei, auch die von der Balustrade der Markuskirche aus auf die Piazzetta, die Piazza und die umliegenden Häuser, allerdings nur ohne Stativ, so war es jedenfalls letzten Frühling so.
Und immer wieder holte uns der Carnevale zurück in die Wirklichkeit. Was heisst Wirklichkeit? Alles war ja nur ein Traum, ein Vortäuschen von versteckten oder falschen Tatsachen. Der Himmel und die Hölle, das Meer und das Land, die Paläste und die Tausend-und-eine-Nacht-Bücher hatten sich geöffnet und ihre darin wohnenden Gestalten in die Stadt entlassen. Aber auch der Einarmige, der bettelnd auf der Brücke mit zerrissenem Hemd sass, hatte der wirklich nur einen Arm? Wir hätten schwören können, dass sein zweiter sich hinter dem Rücken versteckte, schön zugedeckt von den Lumpen. Als er sich unbeobachtet fühlte, zog auch er mit der freien Hand sein Handy aus dem Sack, wie es sich in Italien so gehört! Und wie war das mit der alten Frau, die jeden Morgen, ausser dann, als es regnete, einen herzzerreissenden Anblick bot? Noch buckliger als die Hexe von Hänsel und Gretel und auch gebückter als Papagena bei ihrem ersten Auftreten in der Zauberflöte humpelte sie am Hotel vorbei, ganz in Schwarz, auf ihren krummen Stock gestützt, total missgebildet. Eines schönen Nachmittags trafen wir sie immer noch bettelnd mit dem Becher in der Hand, aber mit einem anderen Kopftuch und viel viel weniger gebückt, in einem anderen Stadtteil. Angelina weigerte sich vehement zu glauben, dass sie auf einen "Betrug" hereingefallen war. Warum sollte man sich am Carnevale nicht als Bettler verkleiden? Als Einarmiger? Alle Masken täuschten etwas vor, warum nicht Unmaskierte...? Der schon zitierte Seume schrieb 1802: "Das Traurigste ist in Venedig die Armut und Bettelei. Man kann nicht zehn Schritte gehen, ohne in den schneidendsten Ausdrücken um Mitleid angefleht zu werden; und der Anblick des Elends unterstützt das Notgeschrei des Jammers. Um alles in der Welt möchte ich jetzt nicht Beherrscher von Venedig sein; ich würde unter der Last meiner Gefühle erliegen... Wenn ich länger in Venedig bliebe, müsste ich notwendig mit meiner Börse oder meiner Empfindung bankrott machen." Seine beschriebenen Bettler waren mit Sicherheit echt!
Zur Unterhaltung der unzähligen Karnevale-Besucher liess sich auch in diesem Jahr die Stadt in verschiedenen Stadtteilen Vieles einfallen:
Ein Masken-Markt, unter den Augen von Goldonis Standbild
Zirkusspiele für Kinder, zum Lernen und Mitmachen
Thema Orient, Seidenstrasse: Workshops für Kinder, die Lieder und Musikinstrumente entlang der Seidenstrasse singen und kennen lernen
Vorführungen von Kalarippayatti-Kämpfen. Diese Kampfkunst aus Indien ist 4000 Jahre alt und soll der Ursprung aller Kampfkünste sein, die ohne Waffe, oder mit Knie, Armen und Beinen, mit Messern, Schwertern oder Schildern vorgezeigt wurden.
Pulcinella im Land der Samurais, ein Spektakel für Jung und Alt
Musiktheater: Orientalischer Tanzexpress mit Geschichten aus dem Orient, oder mit der Schilderung der Rückkehr von Marco Polo aus Catai
Workshops für Kinder: Chinesische, asiatische, japanische Tänze zu Original-Musik
Es gastierte das Beijng Modern Dance Ensemble
Fotoausstellung mit Aufnahmen aus China
Marionetten aus Indien
Workshop für Kinder: Herstellen und Bemalung von Masken
Zirkusvorführungen mit Artisten aus Taiwan
Das indische Tanztheater Kathakali mit Originalmusik
All dies und auch Bälle hätte man besuchen können, Theatervorstellungen und Vivaldikonzerte...
In einer dunklen Ecke oder im Hotelzimmer löschten wir dann und wann diejenigen Bilder, die nicht so ganz gelungen, oder unscharf waren. Nicht selten passierte es einem, dass ein Ellbogen, ein Haarschopf oder ein ganzer Rücken im Sucher auftauchte, genau dann, wenn man bereits auf den Auslöser gedrückt hatte. Diese Aufnahmen mussten verschwinden, um Platz für Neues zu schaffen. Es brauchte oft viel Geduld und Durchhaltewillen, um in der Menge zu einem guten Schnappschuss zu kommen.
Wir hatten die Erfahrung gemacht, dass geblitzte Aufnahmen sehr reizvoll die Hauptsache zeigten, Figuren vor dunklem Hintergrund. Leider spielte uns am Donnerstag Petrus einen Streich. Er liess es regnen und winden, es wurde kalt und die Fotografenbeute wollte sich nur noch spärlich zeigen. Weitere Nachtaufnahmen verschoben wir.
Eine Nachrichtenmeldung fand Michael später im Internet, die uns erklärte, weswegen wir unsere Pläne für die letzten Tage hatten ändern müssen, und unser Carnevale-Fotografier-Fieber eine Baisse erlebt hatte, um den Dogenpalast für einige Stunden ins Zentrum unserer Aktivitäten zu rücken.
"Ein heftiger Sturm hat am Wochenende Sand aus der Sahara über Teile Europas bis nach Bayern geweht und den Himmel gelb-orangerot verfärbt. Mit Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 246 Kilometern pro Stunde fegte der orkanartige Föhn in der Nacht zum Samstag durchs Berner Oberland. In Norditalien löste hingegen starker Schneefall ein Verkehrschaos aus. In Mailand und Turin fielen zahlreiche Flüge aus."
Auch in Venedig hatte das Naturschauspiel seine Spuren hinterlassen: Wir flüchteten vor Wind und Regen wie viele andere Leute mit uns in den Dogenpalast, um die Gedanken um das Thema: Schein, Trug, Wirklichkeit! weiterzuführen. Michele hatte die fantastische Idee, uns für eine Führung anzumelden. Itinerari segreti, verschwiegene, verborgene Gänge des Dogenpalastes, sollten wir eine Stunde lang begehen und Informationen geliefert bekommen. Ab und zu zeigte ein Blick aus einem Fenster, dass draussen das Wetter verrückt spielte. Dicke Schneeflocken tanzten plötzlich vor den Gittern und um die Häupter der Kolossalstatuen des Mars und des Neptun oben an der Scala di Giganti, grosse Lachen bildeten sich auf der Piazzetta, Schneematsch vermischte sich mit wenigen Konfettis, die Mülleimer füllten sich mit vom Wind zerrupften Schirmen! Die Touristen kuschelten sich frierend zwischen die Säulen der Gänge. Die Dächer trugen plötzlich Weiss.
Eine sympathische Italienerin führte uns treppauf, treppab, durch enge Gänge, in verschwiegene "Büros" von Kanzlern, Schreibern, Räten, Inquisitoren.
Von aussen gesehen wirken die Stockwerke im Dogenpalast sehr hoch, in dieser verschwiegenen Welt teilen sich jeweils zwei Stockwerke die eine Fensterhöhe. Im offiziell zugänglichen Teil des Palastes wird man vom Luxus geblendet (alles Goldige ist übrigens in 24 Karat Blattgold ausgeführt, was den Vorteil hat, dass das Gold nicht nachdunkelt, mehr glänzt als minderwertigeres und dass alle Säle noch grösser und höher zu sein scheinen als sie schon sind. Beeindruckend! In der dem Volk verborgenen, versteckten Welt huschten Schreiber und Räte durch dunkle, niedrige Gänge ohne Prunk, ihre Arbeitsstuben waren schmucklos und klein. Hier waren keine Kunstwerke von Tintoretto, Veronese oder Tiepolo zu bewundern. In verborgenen Räumen und Kästen wurden alle aus Sicherheitsgründen in dreifacher Ausführung abgeschriebenen Papiere an verschiedenen Standorten im Palast verwahrt. Die Gefahr, dass die Dokumente ein Raub der Flammen oder Ratten würden, war immer da. Auf diesen einfachen Tischen lagen die Stapel von den bei der Bocca della Verità eingeworfenen Denunziationen. Wir hörten, ohne es recht zu glauben, dass die Verbreiter von Falschaussagen mit derselben Strafe zu rechnen hatten, wie ihre Opfer, die sich vielleicht als unschuldig erwiesen und zu Unrecht angezeigt. Wir erfuhren, dass der Doge wohl mächtig war, aber eigentlich nur eine repräsentative Rolle zu spielen hatte, zudem erhielt er kein Einkommen, und musste alle Empfänge, Möbel, Kunstgegenstände und sonstige Einrichtungen selbst berappen, bei dem Vermögen, das er von Haus auf besitzen musste, nicht allzu schlimm. Lebenslänglich gewählter Doge konnte man erst im Alter werden, das gab dem Staatsapparat die Gewissheit, dass man nicht lange im Amt bleiben würde. Der Kanzler, der aber wurde so übermässig hoch bezahlt, dass man damit die Gewähr hatte, einen lebenslang unkäuflichen Mann an der Spitze der Geschäfte zu haben. Er stammte aus dem Mittelstand und war demnach der einzige Unadelige in der Regierung, er durfte trotzdem bei Prozessionen vor dem Dogen herschreiten, sogar mit dem Hut auf dem Kopf! Wenn man bedenkt, dass die Dogen sich den Platz über allen Kirchen- und Staatshäuptern von Europa reserviert hatten...
Wir besuchten den unheimlichen Ort der Inquisition, wo man an der Seilwinde die Häftlinge so lange an den hinter dem Rücken festgebundenen Händen in die Höhe zog, bis sie "richtige" Antwort gaben oder ihre "Vergehen" zugaben. Wie viele schuldige und unschuldige Menschen hatten wohl in diesem Raum gelitten? Zum Tode verurteilt wurde, wer sich an Kindern vergangen, wer unerlaubt Holz geschlagen, Wasser verunreinigt oder gemordet hatte; wäre das heute noch so, gäbe es viele Leute, die um ihr Leben bangen müssten! Dieselbe Strafe erhielt, wer sich gegen den Dogen oder gegen die Religion ausgesprochen, auch wer das Geheimnis der Glasherstellung in Murano verraten hatte.
Enge Gänge und viele Stufen führten uns hinauf zum Dachstuhl, in dem man den Wind heulen hörte, und der ist so imposant wie die grossen, darunter liegenden Ratssäle mit den vielen Gemälden und Historienmalereien berühmter Künstler. Ein geordnetes Gewirr von dicken Balken, die vor dem Bau monatelang in Salzlauge eingelegt worden waren und monatelang wieder austrocknen mussten bis sie so hart wie Marmor wurden. Hier hängen an langen Metallschrauben die riesigen Deckenbilder in ihren vergoldeten Holzrahmen, das ganze Gewicht der säulenlosen Decke wird kompliziert umgeleitet und von einer Balkenreihe zur anderen verteilt.
In luftiger Höhe zeigte man uns, wo Giacomo Girolamo Casanova de Seingalt (1725-1798), der Lebemann, Schriftsteller, Hochstapler, Lebenskünstler, Nonnen-Verführer, Musiker und Schauspieler einst seine Spaziergänge machte, wo er sich von der Enge seines Gefängnisses, in welchem er 5 Jahre lang hätte schmoren müssen, erholen konnte. Durch kleine Dachluken lockte ihn, uns ebenso, wunderbare Ausblicke auf die schöne Lagunenstadt, die im Schneegestöber zu unseren Füssen lag.
Casanova hatte in seiner Zelle fleissig mit einer Eisenspitze, die er auf dem Dachboden gefunden und vor seinem Wärter Lorenzo versteckt hatte, ein Loch in seinen Zellenboden gebohrt. Er wollte natürlich so schnell wie möglich ausbrechen. Schon bald am Ziel, kurz vor dem Durchbruch also, brachte ihm Lorenzo, der eine Art Freund für ihn geworden war, die gute Nachricht, er würde in eine grössere Zelle gebracht. Die ganze Arbeit war also umsonst gewesen! (Es war sein Glück, dass er zügeln musste, er wäre nämlich durch das Deckenbild im Saal der Drei Räte geplumpst, und die hätten dafür gesorgt, dass er nie mehr das Gefängnis verlassen hätte.) Beim Zügeln wurde das Loch im Boden entdeckt. Der Wärter konnte aber, um sich selber nicht zu verraten und um sich vor Strafe zu schützen, Casanova nicht anzeigen. Der Schlaue hatte nämlich genug, um Lorenzo unter Druck zu setzen:
Lorenzo hatte ihm eigenmächtig erlaubt, Spaziergänge auf dem Dachboden zu machen. Lorenzo hatte ihm bei den Botengängen mit Einkäufen in der Stadt nie das Herausgeld zurückgebracht und sich dadurch bereichert.
Wenn das dem Rat zu Ohren gekommen wäre! Das hätte für eine saftige Strafe gereicht!
In der neuen Zelle unter den Bleidächern konnte sich Casanova mit seinem Nachbarn, Pater Balbi, unterhalten und neue Pläne schmieden. Diesmal war ein Ausbruch zu zweit geplant. Die Eisenspitze für die Bohrungen in der Decke der Nachbarzelle konnte Casanova geschickt in einer Bibel verstecken. Leider war die Bibel, die Lorenzo in der Stadt auftreiben musste, nicht gross genug. Der Menschenkenner Casanova bestellte sogleich eine Riesenschüssel Gnocchi mit viel zerlassener Butter darüber. Die legte er auf die kostbare Bibel. Das Ganze sollte Lorenzo dem Pater bringen: "Pass auf! Die Bibel ist sehr kostbar und sie ist ein Geschenk von mir an den Pater Balbi in der Nachbarzelle. Sie darf nicht besudelt werden. Konzentrier dich also auf die zerlassene Butter! Weh dir, wenn die Bibel auch nur einen Flecken abbekommt!" So konzentrierte sich der Wärter auf die Platte und übersah die hervorguckende Eisenspitze.
Pater Balbi, der einige Jahre absitzen musste, weil er zu viele Kinder in die Welt gesetzt hatte, übernahm nun die Aufgabe, in seiner Zelle an der Decke ein Loch zu bohren. Das musste aber versteckt werden. Casanova hatte auch dafür eine glänzende Idee: Er schickte Lorenzo wieder in die Stadt um ein Heiligenbild zu kaufen. Es sei ein Geschenk für Pater Balbi. Als Lorenzo bemerkte, dass das Heiligenbild an der Decke befestigt wurde, statt an der Wand, wie es sich für ein Bild gehörte und den Sinn hinterfragte, erhielt er die folgende plausible Erklärung: "Ich bin ein Mann der Kirche. Als solcher habe ich Gebete zu verrichten. Beim Beten erhebe ich aber gerne meinen Blick zum Himmel. Deswegen brauche ich das Bild an der Decke!" Überzeugend, oder etwa nicht? So wurde uns in Casanovas Gefängnis die Geschichte berichtet. Ob sie sich in Wirklichkeit so zugetragen hat, werden wir nie erfahren.
Casanova wurde begnadigt und durfte nach einem langen Aufenthalt im Ausland wieder in seine Stadt zurückkehren. Allerdings musste er ihr dann als Geheimagent der Staatsinquisition dienen. Er schrieb 1787 seine Memoiren und schilderte darin seine Flucht aus den Bleikammern. Hier ein kurzes Stück daraus:
"In dieser Zeit widerfuhr mir eines Morgens etwas, das mir meinen kläglichen Seelenzustand verdeutlichte. Ich stand auf dem Dachboden, schaute zur Dachluke hinauf und sah auch den dicken Balken. Lorenzo, mein Wärter, kam gerade mit zweien seiner Leute aus meiner Zelle, da sah ich den mächtigen Balken nicht etwa nur erzittern, sondern sich nach rechts biegen und dann wieder in einer langsamen, ruckartigen Gegenbewegung in seine ursprüngliche Lage zurückkehren. Da ich zugleich spürte, dass ich meinen festen Stand verlor, war ich überzeugt, es handle sich um einen Erdbebenstoss, und die Leute um mich merkten es; ich sagte nichts und freute mich über die Erscheinung. Einige Sekunden später gab es wieder die gleiche Bewegung; ich konnte nicht verhindern, dass mir die Worte un'altra, un'altra gran Dio, ma più forte von den Lippen kamen. Die Büttel, entsetzt über das, was sie für die Ruchlosigkeit eines irren und gotteslästerlichen Verzweifelten halten mussten, liefen entsetzt davon. Nachher, als ich mich bedachte, stellte ich fest, dass ich zu den möglichen Ereignissen den Einsturz des Dogenpalastes gerechnet hatte; der wäre mir zur Wiedererlangung meiner Freiheit gerade recht gewesen. Der Palast sollte vornüber kippen und mich ganz unbeschädigt, wohlbehalten und frei auf dem schönen Pflaster des Markusplatzes absetzen. So begann ich verrückt zu werden. Der Stoss kam von dem Erdbeben, das in den gleichen Tagen Lissabon verheerte."
Wie die Geschichte lehrt, konnten Casanova und der Pater sich auf eine spektakuläre Art mit einer Kletterpartie über die Dächer und eine Flucht durch obere Säle befreien und unbemerkt entkommen. Wir verliessen die geheimen Gänge auch auf eine aussergewöhnliche Art, nämlich durch den als Kasten getarnten Ausgang in einer Amtsstube.
Und plötzlich verstanden wir, dass die Gefängnisse im Dogenpalast, Casanova und die in den Läden ausgestellten Katzenmasken zusammenhingen: Die alten Gefängnisse, man unterscheidet in die alten, feuchten, von Ratten heimgesuchten Gefängnissen von den neuen, den "gesunderen" unter den Bleiplatten unter dem Dachstock des Palastes, die man über die Seufzerbrücke erreichen kann, waren nicht nur mit Gefangenen überfüllt, sondern auch mit Ratten. Katzen mussten her, auch ausländische Katzen, die man, ganze Schiffsladungen voll, aus Syrien und Palästina einführte. Und (nicht nur) zur Zeit der Pest, wurden hier die Katzen als Glücksbringer angesehen, obwohl ihre Urahnen es nicht hatten verhindern können, dass ein Drittel der venezianischen Bevölkerung von der schlimmen Plage dahingerafft worden war. Sie hatten die Aufgabe, in ganz Venedig, in den Gefängnissen, Kirchen, Häusern, überall, dem Rattenvolk den Garaus zu machen. Heute noch sind die Nachfahren dieser Katzen nachts unterwegs.
Eigentlich wären wir für neue Abenteuer mit Masken wieder aufnahmefähig. Schade, dass Michele nicht mitbekommen hatte, wie mich ein in Bronze gekleidetes Zauberwesen mit goldenem Füllhorn von hinten anschlich, mir den Arm um die Schultern legte, während ich seine Partnerin aufs Korn nahm; und als ich mich überrascht umdrehte wünschte er mir freundlich: "Buon Carnevale!!!" Oder der schlanke, langbeinige Mann in Lederhosen, der mit federnden, eleganten Schritten und den wippenden schwarz-weissen Straussenfedern auf dem Hut immer wieder auf sich aufmerksam machte. Der wirkte vielleicht anziehend mit seinen lockenden Handbewegungen und dem schmachtenden Blick! Michael weckte mich aus der Verzauberung: "He, der flirtet ja mit dir? Das geht entschieden zu weit!" Unnötig zu sagen, dass vier Meter weiter eine hübsche bunte Figur Michael verzauberte, dagegen hatte er rein gar nichts einzuwenden!
Für kurze Zeit mischte ich mich vor der Bühne auf dem Markusplatz bei der Vorstellung der internationalen Masken. Dort wurde es noch deutlicher, dass die Mehrheit der Zuschauer aus Frankreich und Belgien herangereist war. Eröffnet wurde die Parade von den Gastgebern, der "Regina Maria-Antoinetta" und dem "Re Luigi XIV" in wallenden, pompösen Kleidern, im mit Spitzentüchern ausgekleideten Kinderwagen thronten zwei kleine weisse Hündchen mit Schleifchen auf dem Kopf. Darauf folgte die älteste Maske, die am Carnevale teilnahm. Der Präsentator wollte uns das genaue Alter der den Einheimischen sehr bekannten Dame (Schriftstellerin und Malerin) galant nicht verraten, sie aber erklärte mit etwas zittriger Stimme, sie sei zum 91. Mal kostümiert am Carnevale. Ihr Kostüm, ein etwas ungeordnetes längliches Gebilde aus Elementen, die der italienische Lieblingsmaler der Dame, Giorgio de Chirico (1888-1978), bekannt durch die sogenannte metaphysische Malerei (pittura metafisica) in seinen Bildern verwendete, war etwas gewöhnungsbedürftig. Aber alle Achtung, die Dame war mit Leib und Seele den ganzen Tag über auf den Beinen mit ihrem Kostüm, dessen Sujet auf einem am Saum angesteckten Schildchen beschrieben war: Hommage a Chirico. Den Rest der Parade schenkte ich mir, denn alle Masken waren schon vorher auf dem Platz gesichtet und fotografiert worden.
Petrus war dieses Jahr, wie immer wieder auch in den Jahren zuvor, gegen den Carnevale, zumindest ab Donnerstag. Schnee, Wind, Kälte, rutschige Böden, gegen Eisglätte gesalzene Brücken, zusammengerückte, enttäuschte, schlotternde Touristen, das sollte bis zum Ende der Festivitäten so bleiben. Schade, es wären auf der Bühne des Markusplatzes noch etliche Prämierungen vorgenommen worden: die beste Maske überhaupt, die beste orientalische Maske und am letzten Tag die beste Madonna. Wahrscheinlich hat sich aber bei dem Wetter niemand mehr auf die Strasse gewagt.
Genaueres haben wir nie erfahren, denn wir verliessen unsere Traumstadt einige Tage vor dem Ende des Carnevale mit einem lachenden und einem weinenden Auge, Kopf und Speicherkarten voll von Eindrücken. Von Venezia bis Milano konnten wir uns in einem schönen Abteil breit machen und Erinnerungen auffrischen, in Mailand waren alle Sitzplätze und Gänge übervoll und wir mussten wie viele andere auf der Plattform vor dem Ausgang stehen. Nach Monza fing es an zu bessern und wir entdeckten mit Sperberblick den einen oder anderen frei werdenden Sitzplatz. In der rhätischen Bahn waren wir wieder alle Vier vereint. Was für eine Schneepracht rundum! Wir fuhren durch ein Wintermärchen, überall frischgefallener Schnee, wohin man blickte und auf jedem Gartenhag ein Sahnehäubchen. Im Oberengadin angekommen waren wir glücklich, wieder zuhause zu sein, unbeschadet und ohne ungeplanten Zwischenfällen.
Und so werden wir noch lange zurückdenken an ausgestellte venezianische Spitzenstickereien aus Taiwan, an die nebelverhangene Lagune vor der Piazzetta, an die schwarzen Algen auf den wellenumspülten Treppen der Uferpromenade, die aussehen wie Spaghetti con seppie nere, an den golden untergehenden Sonnenball, an die schmachtenden Blicke der Masken, an ihre sehnsüchtig ausgestreckten lockenden Arme, an die lustigen, die Laternenpfähle umarmenden, auf den Treppen sich aalenden Figuren. Noch lange werden wir uns vorstellen können, wie sie sich höflich und ergeben verbeugten und vornehm mit dem Kopf nickten. Ein Kaleidoskop von Bildern aus Himmel und Hölle, aus dem Leben unter Wasser und an Land, von Reichen und Armen, Vornehmen und Narren wird uns noch lange erfreuen. So lange bis zum nächsten Carnevale?
Eins ist sicher, Angelina und Frederico konnten nun nachvollziehen, weswegen wir immer wieder (dieses Jahr zum zehnten Mal) in Venedig angefangene Träume weiterträumen wollen. Venedig entkommt man nicht, wenn einem das Fieber gepackt hat. Es kann sich wie eine Droge zur Sucht ausweiten, die Doppelgesichtigkeit, das Geheimnisvolle, das Untergehende und ewig Junge, die Sinnlichkeit und Vergänglichkeit der Lagunenstadt immer wieder zu erleben und in vollen Zügen zu geniessen. Auch wenn die Todesmasken mit den langen Nasen am Carnevale daran erinnern, dass das Elend hinter allem Prunk regiert (in den langen Nasen oder Schnäbel hatten die Pestärzte und freiwilligen Helfer Kräuter und Essenzen hineingelegt, um sich vor Ansteckung zu schützen). Die Serenissima lockte und lockt zu allen Zeiten Künstler und Feinfühlige an, als flüchtige Besucher oder um sie bis zu ihrem Tod festzuhalten, andere Leute kamen der Selbstfindung wegen hierher. Venedig hat eine hypnotische Wirkung, eine Ausstrahlung, die selbst den Carnevale und sein ganzes buntes Treiben von Tausenden und Abertausenden Besuchern überstrahlt. Jeder Tourist sieht, riecht und erlebt, was er sehen, riechen und erleben will, seien es positive oder negative Eindrücke und Erlebnisse. Venedig schillert wie die Schuppen der Fische auf den Marktständen. Venedig stirbt? Wie kann man sterben, wenn Massen von Touristen aus aller Welt sich hier begegnen? Venedig pulsiert! Auch der hastigste Besucher merkt, wie einzigartig und unvergleichbar, wie unbeschreibbar und unergründlich diese Stadt ist, wo Schein, Trug und Wirklichkeit sich durchdringen. Und wer Venedigs Botschaft nicht empfängt, ist selber schuld und braucht nie wieder zurückzukehren!
Evelyne Scherer
Fotos: Evelyne und Michael Scherer
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